Der Zeitdieb
nicht, wie viel Erfahrung du mit solchen Dingen hast, Mädchen, aber manchmal, wenn die Hohen und Mächtigen große Pläne schmieden, denken sie nicht immer an die kleinen Details.«
Ja. Ich bin ein kleines Detail, dachte Susanne. Eines Tages kam es Tod in den Sinn, ein mutterloses Kind zu adoptieren, und ich bin ein kleines Detail. Sie nickte.
»Ich dachte, auf welche mystige Weise geht diese Sache weiter?«, fuhr Frau Ogg fort.
»Ich meine, eigentlich befanden wir uns hier in dem Bereich, wo der Prinz als Schweinehirt aufwächst, bis sich ihm sein Schicksal offenbart. Aber heutzutage gibt es 289
nicht mehr viele Jobs für Schweinehirten, und mit Stöcken Schweine vor sich her zu treiben ist auch nicht so toll, wie manche Leute glauben. Deshalb sagte ich: Nun, ich habe von Gilden in der Stadt gehört, die Findelkinder aus Barmherzigkeit aufnehmen und sich um sie kümmern. Und es gibt viele angesehene Männer und Frauen, die ihr Leben auf diese Weise begonnen haben. Niemand braucht sich deswegen zu schämen. Und sollte das Schicksal nicht pünktlich zur Stelle sein, hat er wenigstens einen guten Beruf gelernt, was zumindest ein Trost sein dürfte.
Schweinehirten hingegen dürfen wohl kaum auf einen interessanten beruflichen Werdegang hoffen. Warum der strenge Blick, Fräulein?«
»Es war eine recht herzlose Entscheidung.«
»Jemand muss solche Entscheidungen treffen«, sagte Frau Ogg scharf. »Außerdem hatte ich viele Jahre lang Gelegenheit, Erfahrungen zu sammeln, und dabei fiel mir auf: Wer es in sich hat zu glänzen, wird seinen Glanz auch durch sechs Schichten Schlamm offenbaren. Aber wer es nicht in sich hat, kann noch so viel putzen und polieren – er wird nie glänzen. Du bist vielleicht anderer Meinung, aber du warst nicht dabei.«
Mit einem Streichholz stocherte Frau Ogg im Pfeifenkopf.
Schließlich fuhr sie fort: »Und damit hatte es sich. Ich wäre natürlich geblieben, denn an jenem Ort gab es nicht einmal eine Krippe. Aber der Mann nahm mich beiseite, bedankte sich und meinte, es sei an der Zeit zu gehen. Warum hätte ich ihm widersprechen sollen? Ich spürte Liebe; sie lag in der Luft. Manchmal frage ich mich, wie alles ausging. Ja, manchmal denke ich darüber nach.«
Es gab Unterschiede, musste Susanne zugeben. Zwei verschiedene
Leben hatten ihre Spuren in den beiden Gesichtern hinterlassen. Die
beiden Teile des einen Selbst waren in einem Abstand von einer Sekunde geboren worden, und in einer Sekunde kann sich das Universum sehr
verändern.
Stell dir eineiige Zwillinge vor, dachte Susanne. Sie sind zwei
verschiedene Personen, die ihr Leben mit gleich aussehenden Körpern
beginnen. Es sind nicht zwei identische Personen, die mit dem gleichen Selbst anfangen.
»Er sieht mir wirklich sehr ähnlich«, sagte Lobsang, und Susanne blinzelte. Sie beugte sich tiefer zum bewusstlosen Jeremy hinab.
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»Sag das noch einmal«, forderte sie den Novizen auf.
»Er sieht mir wirklich sehr ähnlich«, sagte Lobsang.
Susanne sah zu Lady LeJean, die nickte. »Ich habe es ebenfalls gesehen, Susanne.«
»Wer hat was gesehen?«, fragte Lobsang. »Was verbergt ihr?«
»Seine Lippen haben sich bewegt, als du gesprochen hast.« Susanne
griff nach einer schlaffen Hand und zwickte in die Haut zwischen
Daumen und Zeigefinger.
Lobsang zuckte zusammen und sah auf seine eigene Hand hinab. Die
weiße Haut rötete sich an einer Stelle.
»Es sind nicht nur Gedanken«, stellte Susanne fest. »Auf so geringe
Entfernung spürst du auch seinen Schmerz. Und deine Sprache
kontrolliert seine Lippen.«
Lobsang blickte auf Jeremy hinab.
»Was passiert, wenn er zu sich kommt?«, fragte er langsam.
»Das würde ich auch gern wissen«, erwiderte Susanne. »Vielleicht wäre es besser, wenn du dich dann an einem anderen Ort aufhältst.«
»Aber ich soll hier sein!«
»Aber wir nicht«, meinte Lady LeJean. »Ich weiß, auf welche Weise die anderen vorgehen. Bestimmt diskutieren sie darüber, was es zu
unternehmen gilt. Die Schilder werden sie nicht auf Dauer aufhalten.
Und mir sind die weichen Pralinen ausgegangen.«
»Wie sollst du dich verhalten, wenn du den Ort erreicht hast, an dem du sein sollst?«, fragte Susanne.
Lobsang streckte den Arm aus, und seine Finger berührten Jeremys
Hand. Die Welt wurde weiß.
Susanne fragte sich später, ob es im Zentrum einer Sonne so aussah.
Dort war es nicht gelb, und man sah kein Feuer. Es gab das brennende, lodernde Weiß überlasteter Sinne, die alle
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