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Der Zeitdieb

Der Zeitdieb

Titel: Der Zeitdieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terry Pratchett
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unsinnig« kategorisiert, so brauchte man
    ihnen keine Beachtung zu schenken.
    Einigen anderen Revisoren fiel es schwer, so etwas zu verstehen, und Frau Rötlich-Orange versuchte, es ihnen zu erklären. Sie unterbrach
    ihren Sermon, als sie das Geräusch des Lifts hörte.
    »Ist jemand von uns dort oben?«, fragte sie.
    Die um sie herum stehenden Revisoren schüttelten den Kopf.
    »DIESEN HINWEIS IGNORIEREN« hatte zu viel Verwirrung gestiftet.
    »Jemand kommt nach unten!«, fuhr Frau Rötlich-Orange fort.
    »Jemand, der nicht hierher gehört! Wir müssen ihn aufhalten!«
    »Wir sollten darüber diskutieren…«, begann ein Revisor.
    »Gehorche, du organisches Organ!«

    »Es ist eine Frage von Persönlichkeiten«, sagte Lady LeJean, als Susanne eine kleine Tür öffnete und aufs Dach trat.
    »Ja?«, fragte die junge Frau und ließ den Blick über die stille Stadt schweifen. »Ich dachte, so etwas fehlt euch.«
    »Inzwischen dürften sie damit ausgestattet sein«, meinte Lady LeJean und trat ebenfalls nach draußen. »Und Persönlichkeiten messen sich mit anderen Persönlichkeiten.«
    Susanne schob sich an der Brüstung entlang und dachte über die
    letzten Worte der Revisorin nach.
    »Du meinst, es kommt zu heftigen Auseinandersetzungen?«, fragte sie.
    »Ja. Wir sind nie zuvor mit einem Ego ausgestattet gewesen.«
    »Nun, du scheinst damit ganz gut zurechtzukommen.«
    »Weil ich vollkommen verrückt bin«, sagte Ihre Ladyschaft.
    Susanne drehte sich um. Lady LeJeans Hut und auch ihr Kleid wirkten
    noch mitgenommener als vorher, und sie verlor Pailletten. Ihr Gesicht sah aus wie eine dünne Porzellanmaske, die von einem Clown bemalt
    worden war. Von einem blinden Clown, der Boxhandschuhe getragen
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    hatte. Bei dichtem Nebel. Lady LeJean betrachtete die Welt aus Panda-Augen, und der Lippenstift hatte den Mund nur durch Zufall getroffen, an einigen wenigen Stellen.
    »Du siehst nicht verrückt aus«, log Susanne. »Nicht in dem Sinne.«
    »Danke. Allerdings werden solche Dinge von der Mehrheit bestimmt.
    Kennst du die Redensart ›Das Ganze ist größer als die Summe seiner
    Teile‹?«
    »Natürlich.« Susanne blickte über die Dächer und suchte nach einem
    Weg nach unten. Dies hatte ihr gerade noch gefehlt. Das… Geschöpf
    schien reden zu wollen. Es schwatzte die ganze Zeit über.
    »Es ist eine verrückte Bemerkung, die überhaupt keinen Sinn ergibt«, fuhr Lady LeJean fort. »Aber ich glaube, sie stimmt.«
    »Gut. Der Lift müsste gleich das Erdgeschoss erreichen…«

    Streifen aus blauem Licht, wie Forellen in einem Fluss, tanzten an der Lifttür.
    Die Revisoren warteten. Sie hatten gelernt. Viele von ihnen verfügten über Waffen. Einige von ihnen spürten etwas, das sie den anderen nicht mitteilten: Es fühlte sich natürlich an, eine Waffe in der Hand zu halten.
    Dieses Empfinden berührte etwas an der Rückseite des Gehirns.
    Zwei von ihnen zogen die Tür des Lifts auf, und zum Vorschein kam
    eine halb zerlaufene Kirschlikörpraline.
    Der Duft wehte den Revisoren entgegen.
    Es gab nur einen Überlebenden, und als Frau Rötlich-Orange die
    Praline aß, gab es niemanden mehr.

    »Es ist eine der Gewissheiten des Lebens, dass sich unter all den leeren Papierchen noch eine letzte Praline befindet«, sagte Susanne.
    Sie stand am Rand der Brüstung, bückte sich und griff nach einem
    Abflussrohr.
    Sie wusste nicht genau, wie dies funktionierte. Wenn sie fiel… Aber
    konnte sie überhaupt fallen? Es gab keine Zeit für einen Sturz. Sie verfügte über ihre eigene, persönliche Zeit. Was rein theoretisch – wenn 295

    es in einem solchen Fall überhaupt so etwas wie eine Theorie geben
    konnte – bedeutete, dass sie nur langsam zu Boden schweben würden.
    Aber eine solche Theorie testete man am besten dann, wenn einem keine andere Wahl blieb. Eine Theorie war nur eine Idee. Ein Abflussrohr
    hingegen war Fakt.
    Das blaue Licht flackerte an ihren Händen.
    »Lobsang?«, fragte sie leise. »Bist du das?«
    Dieser Name ist so gut wie jeder andere für uns. Die Stimme war so leise wie ein Atemhauch.
    »Es mag eine dumme Frage sein, aber… Wo bist du?«
    Wir sind nur eine Erinnerung, Und ich bin schwach.
    »Oh.« Susanne rutschte ein wenig weiter nach unten.
    Aber ich werde stärker. Begib dich zur Uhr.
    »Warum? Wir konnten dort nichts ausrichten!«
    Die Zeiten haben sich geändert.
    Susanne erreichte den Boden. Lady LeJean folgte ihr und bewegte sich unbeholfen. Ihr Abendkleid bekam einige weitere

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