Der Zeitdieb
Risse.
»Darf ich dir einen Modetipp geben?«, fragte Susanne.
»Er wäre mir sehr willkommen«, erwiderte Ihre Ladyschaft höflich.
»Eine kirschrote Pumphose passt nicht zu einem solchen Kleid.«
»Nein? Sie ist hübsch bunt und warm. Was hätte ich stattdessen wählen sollen?«
»Bei dem Schnitt? Am besten gar nichts.«
»So etwas wäre akzeptabel?«
»Äh…« Susanne erbleichte, als sie sich anschickte, die komplizierten Gesetze der Damenunterwäsche einer Person zu erklären, in der sie
eigentlich gar keine Person sah. »Für jemanden, der es schließlich
herausfindet… ja. Äh, es würde zu lange dauern, alle Details zu
erklären.«
Lady LeJean seufzte. »So ist es bei allen Dingen. Sogar bei der
Kleidung. Ein Hautersatz, um Körperwärme zu erhalten? Es klingt
simpel. Es lässt sich leicht sagen. Aber es gibt so viele Regeln und 296
Ausnahmen, dass man sie unmöglich alle verstehen kann.«
Susanne blickte über den Breiten Weg. Dichter Verkehr herrschte dort, still und starr. Nirgends zeigten sich Revisoren.
»Bestimmt begegnen wir mehr von ihnen«, sagte sie.
»Ja«, bestätigte Lady LeJean. »Hunderte sind hierher gekommen.«
»Warum?«
»Weil wir uns immer gefragt haben, wie das Leben ist.«
»Dann lass uns zur Zephirstraße gehen«, sagte Susanne.
»Was gibt es dort für uns?«
»Wienrich und Böttcher.«
»Wen meinst du damit?«
»Ich glaube, der erste Herr Wienrich und die ursprüngliche Frau
Böttcher sind vor langer Zeit gestorben. Aber der Laden macht noch
immer gute Geschäfte.« Susanne eilte über die Straße. »Wir brauchen
Munition.«
Lady LeJean schloss zu ihr auf.
»Oh«, sagte sie. »Dort werden Pralinen hergestellt?«
»Pinkelt ein Bär im Wald?«, fragte Susanne und erkannte ihren Fehler sofort.*
Zu spät. Lady LeJean dachte einige Sekunden nach.
»Ja«, sagte sie schließlich. »Ja, ich glaube, bei den meisten Bärenarten kommt es tatsächlich zu derartigen Ausscheidungen, zumindest in den
Regionen mit gemäßigtem Klima. Allerdings gibt es auch welche, die…«
»Ich wollte sagen: Ja, dort werden Pralinen hergestellt«, unterbrach Susanne die Revisorin.
Eitelkeit, Eitelkeit, dachte Lu-Tze, als der Milchwagen durch die stille Stadt rumpelte. Ronnie wäre wie ein Gott gewesen, und solche Leute
verstecken sich nicht gern. Sie verbergen sich nicht wirklich. Sie
* Wenn man längere Zeit kleine Kinder unterrichtet, kann sich das auf den Wortschatz auswirken.
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hinterlassen kleine Hinweise, ein smaragdgrünes Täfelchen,
Schriftzeichen in einem Wüstengrab, irgendetwas, das dem
aufmerksamen Forscher mitteilte: Ich war hier und ich war mächtig.
Vor was hatten die ersten Menschen sonst noch Angst gehabt?
Vielleicht vor der Nacht. Vor Kälte, Bären, Winter, Sternen. Vor dem endlosen Himmel. Vor Spinnen und Schlangen. Voreinander. Die
Menschen hatten sich vor vielen Dingen gefürchtet.
Lu-Tze holte das recht abgenutzte Buch des Weges hervor und öffnete
es an einer beliebigen Stelle.
Koan 97: »Verhalte dich anderen gegenüber so, wie sie sich dir gegenüber verhalten sollten.« Hmm. Keine große Hilfe. Außerdem war
er sich nicht sicher, ob er in diesem Fall alles richtig aufgeschrieben hatte, obgleich die Weisheit zweifellos funktionierte: Er hatte im Wasser lebende Säugetiere immer in Ruhe gelassen und war seinerseits nie von ihnen belästigt worden.
Er versuchte es noch einmal.
Koan 124: »Es ist erstaunlich, was man sieht, wenn man die Augen offen hält.«
»Was ist das für ein Buch, Mönch?«, fragte Ronnie.
»Oh, nur ein… kleines Buch«, erwiderte Lu-Tze und sah sich um.
Der Wagen kam an einem Beerdigungsinstitut vorbei. Der Eigentümer
hatte in ein großes Schaufenster aus Tafelglas investiert, obwohl ein Leichenbestatter eigentlich nicht viel anzubieten hat, das in einem
Schaufenster gut aussieht. Für gewöhnlich begnügten sie sich mit
schwarzen Vorhängen und der einen oder anderen geschmackvollen
Urne.
In diesem Fall zeigte das Schaufenster auch den Namen des fünften
Reiters der Apokalypse.
»Ha!«, sagte Lu-Tze leise.
»Ist irgendetwas komisch, Mönch?«
»Eigentlich schon, wenn man darüber nachdenkt«, erwiderte Lu-Tze.
Die Worte galten nicht nur Ronnie, sondern auch ihm selbst. Er drehte sich zur Seite und streckte die Hand aus.
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»Freut mich, dich kennen zu lernen«, sagte er. »Lass mich deinen
Namen raten.«
Und er nannte ihn.
Entgegen ihrer Gewohnheit hatte sich Susanne nicht exakt
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