Der Zeitdieb
du mir bis hierher folgen?«
»Äh, ja, aber, ich meine, bis eben hast du ganz menschlich gewirkt«, erwiderte Lobsang.
»Meine Eltern waren Menschen. Es gibt mehr als nur eine Art von
Genetik.« Susanne zögerte. »Auch du siehst menschlich aus.
Menschliches Aussehen gilt in dieser Gegend seit einiger Zeit als der letzte Schrei. Du würdest staunen.«
»Aber ich bin ein Mensch!«
Susanne lächelte schief. Bei jemandem, der weniger selbstbewusst war, hätte es vielleicht nervös gewirkt.
»Ja«, entgegnete sie. »Und nein.«
»Nein?«
»Nimm zum Beispiel Krieg«, sagte Susanne und machte einen verbalen
Umweg. »Er ist groß. Lacht gern und laut. Neigt dazu, nach dem Essen zu furzen. Ein ganz normaler Bursche. Ebenso normal wie Tod. Krieg
hat menschliche Gestalt, weil Menschen das Konzept… der Konzepte
entwickelten. Leute wie Krieg denken in menschlichen Bahnen…«
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»Lass uns zum ›Ja, und nein‹ zurückkommen.«
»Deine Mutter ist Zeit.«
»Niemand weiß, wer meine Mutter ist!«
»Ich könnte dich zu der Hebamme bringen«, sagte Susanne. »Dein
Vater holte die beste auf der ganzen Welt. Sie übernahm die Entbindung.
Deine Mutter ist Zeit.«
Lobsang saß mit offenem Mund da.
»Für mich war es leichter«, sagte Susanne. »Als ich ganz klein war,
erlaubten meine Eltern, dass ich meinen Großvater besuchte. Ich dachte damals, jeder Opa hätte einen langen schwarzen Kapuzenmantel und
ritte ein weißes Pferd. Und dann fanden meine Eltern, dass sich solch eine Umgebung nicht für ein Kind eignet. Sie machten sich Sorgen, unter welchen Umständen ich aufwuchs!« Sie lachte humorlos. »Ich bekam
eine sehr sonderbare Erziehung. Mathematik, Logik, solche Dinge. Und dann, als ich etwas jünger war als du, kam eine Ratte in mein Zimmer, und plötzlich waren all die Dinge, an die ich geglaubt hatte, nicht mehr wahr.«
»Ich bin ein Mensch! Ich tue menschliche Dinge! Ich wüsste es, wenn…«
»Du musstest in der Welt leben«, sagte Susanne so sanft wie möglich.
»Wie sonst hättest du lernen können, ein Mensch zu sein?«
»Und mein Bruder? Was ist mit ihm?«
Jetzt ist es soweit, dachte Susanne. »Er ist nicht dein Bruder. Ich habe ein bisschen gelogen. Entschuldige.«
»Aber vorhin hast du gesagt…«
»Ich wollte es dir vorsichtig beibringen«, meinte Susanne. »An solche Dinge muss man sich nach und nach gewöhnen. Er ist nicht dein
Bruder, sondern du selbst.«
»Und wer bin ich?«
Susanne seufzte. »Du. Ihr beide seid… du.«
»Und dort saß ich, und dort lag sie«, sagte Frau Ogg. »Und dann kam das Kind heraus, kein Problem, aber das ist immer ein schwieriger Augenblick für die Mutter, 288
und ich hatte ein sonderbares Gefühl…« Sie unterbrach sich und sah aus den Fenstern des Gedächtnisses. »Es… fühlte sich an, als hätte die Welt gestottert, und ich hielt das Baby und blickte nach unten, und da sah ich mich selbst bei der Entbindung, und ich sah zu mir auf, und ich sah auf mich hinab, und ich erinnere mich, dass ich sagte: ›Das ist ja eine schöne Bescherung.‹ Woraufhin sie, die ich war, erwiderte: ›Nie hast du ein wahreres Wort gesprochen, Frau Ogg.‹ Und dann wurde alles noch seltsamer, und plötzlich hielt ich – es gab nur noch ein Exemplar von mir
– zwei Babys.«
» Zwillinge «, sagte Susanne.
»Man könnte sie Zwillinge nennen, ja«, sagte Frau Ogg. »Aber ich dachte immer, Zwillinge sind zwei kleine Seelen, die einmal geboren werden, nicht eine Seele, die zweimal geboren wird.«
Susanne wartete. Frau Ogg schien in der richtigen Stimmung zu sein, um ihre Schilderungen fortzusetzen.
»Und so fragte ich den Mann: ›Und jetzt?‹ Woraufhin er antwortete: ›Geht dich das irgendwas an?‹ Und ich sagte, er könne verdammt sicher sein, dass es mich etwas angeht, und er sah mir direkt in die Augen und begriff, dass ich nie ein Blatt vor den Mund nehme. Gleichzeitig dachte ich: Du hast Probleme, Mädchen, denn jetzt ist alles mystig geworden.«
»Mystisch?«, fragte die Lehrerin Susanne.
»Ja. Mit zusätzlicher Mystigkeit. Und wenn die Dinge mystig werden, kann man wirklich in Schwierigkeiten geraten. Aber der Mann lächelte nur und meinte, der Junge solle bei Menschen aufwachsen, bis er zum Mann geworden sei, und ich dachte: Na bitte, mystig durch und durch. Ich sah deutlich, dass er keine Ahnung hatte, was als Nächstes geschehen sollte. Alles lag bei mir.«
Frau Ogg zog an der Pfeife, und ihre Augen glitzerten durch den Rauch. »Ich weiß
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