Der Zeitdieb
kahlköpfiger Mann mit einem dünnen Bart und einem freundlichen Lächeln.
Lu-Tze klopfte dem jungen Mann auf die Schulter, um ihm dabei zu
helfen, sich zu entspannen.
»Mal sehen, was der Abt möchte«, sagte er und entrollte das Reispapier.
»Oh. Hier steht, du sollst mich zu ihm bringen.«
Panik ließ die Miene des Novizen erstarren. »Was? Wie soll das
möglich sein? Novizen dürfen den Inneren Tempel nicht betreten!«
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»Ach? In dem Fall nehme ich dich mit, damit du mich zum Abt bringen kannst«, erwiderte Lu-Tze.
»Du darfst dich im Inneren Tempel aufhalten?«, fragte der Novize und hob die Hand vor den Mund. »Aber du bist doch nur ein Keh…Oh…«
»Ja, genau! Ich bin nicht einmal ein richtiger Mönch, geschweige denn ein Dong «, sagte der Kehrer munter. »Erstaunlich, nicht wahr?«
»Aber die Leute reden von dir, als hättest du einen ebenso hohen Rang wie der Abt!«
»Oh, meine Güte«, sagte Lu-Tze. »Ich bin nicht annähernd so heilig.
Die kosmische Harmonie habe ich nie verstanden.«
»Aber du hast doch all die verblüffenden Dinge zustande gebracht…«
»Oh, ich will keineswegs behaupten, dass ich keine gute Arbeit leiste.«
Lu-Tze schlenderte los, den Besen über der Schulter. »Ich bin nur nicht heilig. Gehen wir?«
»Äh… Lu-Tze?«, fragte der Novize, als sie über den alten
Ziegelsteinpfad schritten.
»Ja?«
»Warum heißt dieser Garten ›Garten der fünf Überraschungen‹?«
»Wie lautete dein Name in der Welt, hastiger junger Mann?«,
entgegnete Lu-Tze.
»Neulich. Neulich Ludd, Ehr…«
Lu-Tze hob einen warnenden Zeigefinger. »Ah?«
»Ich meine, Kehrer.«
»Ludd, wie? Aus Ankh-Morpork?«
»Ja, Kehrer«, bestätigte der Junge. Sein niedergeschlagener Tonfall gab zu erkennen, dass er wusste, was jetzt kam.
»Bei der Diebesgilde aufgewachsen? Einer von ›Ludds Jungen‹?«
Der Junge, der einmal den Namen Neulich getragen hatte, sah dem
Alten in die Augen und antwortete mit einem Singsang, der darauf
hinwies, dass er diese Frage zu oft beantwortet hatte. »Ja, Kehrer. Ja, ich war ein Findelkind. Ja, man nennt uns Ludds Jungen und Mädchen, nach einem der Gildengründer. Ja, so lautet mein Adoptiv name. Ja, es war ein 48
gutes Leben, und manchmal sehne ich mich danach zurück.«
Lu-Tze schien das alles gar nicht zu hören. »Wer hat dich hierher
geschickt?«
»Ein Mönch namens Soto hat mich gefunden. Er meinte, ich hätte
Talent.«
»Marco? Der mit all dem Haar?«
»Ja. Ich dachte, bei Mönchen ist ein kahl geschorener Schädel
Vorschrift.«
»Oh, Soto betont, dass sein Kopf unter dem Haar kahl ist«, erwiderte Lu-Tze. »Er bezeichnet sein Haar als ein separates Geschöpf, das
zufälligerweise auf ihm lebt. Als er mit der Erklärung kam, beauftragte man ihn schnell mit einem Außeneinsatz. Ein hart arbeitender Bursche, und sehr freundlich, solange man sein Haar nicht berührt. Hier gibt es eine wichtige Lektion: Dort draußen überlebt man nicht, indem man alle Regeln beachtet, und das gilt auch für diejenigen, die sich auf geistige Dinge beziehen. Welchen Namen hast du hier erhalten?«
»Lobsang, Ehr… äh, Kehrer.«
»Lobsang Ludd?«
»Äh… ja, Kehrer.«
»Erstaunlich. Nun, Lobsang Ludd, du hast versucht, meine
Überraschungen zu zählen. Alle versuchen das. Überraschung ist die
Natur der Zeit, und fünf ist die Zahl der Überraschung.«
»Ja, Kehrer. Ich habe die kleine Brücke gefunden, die sich zur Seite neigt, wodurch man in den Karpfenteich fällt…«
»Gut. Gut.«
»Und ich habe die Bronzeskulptur des Schmetterlings entdeckt, der mit den Flügeln schlägt, wenn man ihn anhaucht…«
»Das sind zwei.«
»Dann wären da die Gänseblümchen, die einen überraschenderweise
mit giftigen Pollen besprühen…«
»Ah, ja. Viele Leute finden sie außerordentlich überraschend.«
»Und die vierte Überraschung ist vermutlich die jodelnde
Stabheuschrecke.«
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»Ausgezeichnet«, sagte Lu-Tze und strahlte. »Sie ist sehr gut, nicht wahr?«
»Aber die fünfte Überraschung konnte ich bisher nicht finden.«
»Ach?«, erwiderte Lu-Tze. »Gib mir Bescheid, wenn du sie gefunden
hast.«
Lobsang Ludd dachte darüber nach, als er dem Kehrer folgte.
»Der Garten der fünf Überraschungen ist eine Prüfung«, sagte er
schließlich.
»O ja. Das gilt praktisch für alle Dinge.«
Lobsang nickte und erinnerte sich an den Garten der vier Elemente.
Jeder Novize fand die Bronzesymbole der ersten drei – im Karpfenteich, unter einem
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