Der Zeitdieb
Stein, an einen Milan gemalt –, aber Lobsangs
Klassenkameraden hatten vergeblich nach »Feuer« Ausschau gehalten.
Nirgends im Garten ließ sich etwas Feuriges entdecken.
Nach einer Weile gingen Lobsang folgende Gedanken durch den
Kopf: Es gab tatsächlich fünf Elemente, wie die Meister lehrten. Aus vieren bestand das Universum, und das fünfte, die Überraschung, sorgte dafür, dass es immer wieder neu entstehen konnte. Niemand hatte gesagt, dass die vier Elemente des Gartens die materiellen vier waren, und deshalb konnte das vierte Element des Gartens aus der Überraschung bestehen, dass das Feuer fehlte. Außerdem gab es in einem Garten normalerweise kein Feuer, und die anderen Zeichen waren, im wahrsten Sinne des
Wortes, ganz in ihrem Element. Anschließend hatte Lobsang die weiter unten gelegenen Bäckereien aufgesucht, um dort Feuer zu finden, rot
und heiß unter den Brotlaiben.
»Ich nehme an, die fünfte Überraschung… besteht darin, dass es gar
keine fünfte Überraschung gibt«, sagte Lobsang.
»Ein guter Versuch, aber da hast du leider Pech gehabt«, erwiderte Lu-Tze. »Und steht nicht geschrieben ›Oh, du bist so scharfsinnig, dass du dich eines Tages schneiden könntest‹?«
»Äh, das habe ich nicht in den heiligen Texten gelesen, Kehrer«, sagte Lobsang unsicher.
»Nein, wohl kaum.«
Sie traten aus dem hellen Sonnenschein in die tiefe Kühle des Tempels, 50
wanderten durch uralte Korridore und über in den Fels gemeißelte
Treppen. Das Geräusch fernen Gesangs folgte ihnen. Lu-Tze, der nicht heilig war und deshalb unheilige Gedanken denken konnte, fragte sich, ob die singenden Mönche tatsächlich etwas sangen oder einfach nur
»Aahaaahahah« machten. Angesichts der vielen Echos konnte man nicht
sicher sein.
Er wandte sich vom Hauptflur ab und griff nach den Klinken einer
großen roten Doppeltür. Dann zögerte er und blickte über die Schulter.
Lobsang war einige Meter entfernt stehen geblieben.
»Kommst du?«
»Nicht einmal Dongs dürfen diesen Bereich betreten!«, brachte Lobsang hervor. »Man muss mindestens Dritter Djim Ting sein!«
»Ja, stimmt. Es ist eine Abkürzung. Komm jetzt. Hier zieht’s.«
Lobsang folgte dem Kehrer sehr widerstrebend und rechnete jeden
Augenblick damit, dass die scharfe Stimme der Autorität erklang.
Und dieser Mann war nur ein Kehrer! Jemand, der fegte, Kleidung
wusch und die Aborte reinigte! So etwas hatte niemand erwähnt! Von
ihrem ersten Tag an hörten Novizen Legenden über Lu-Tze. Er hatte
einige der wirrsten Knoten der Zeit gelöst, und es war ihm gelungen, dem Verkehr auf den Kreuzungen der Geschichte auszuweichen.
Angeblich genügte ein Wort von ihm, um die Zeit in eine neue Richtung zu lenken, und diese Fähigkeit nutzte er für eine besonders subtile
Kampftechnik…
Und hier ging ein dürrer kleiner Mann, der irgendwie allgemein-
ethnisch wirkte und dadurch den Eindruck erweckte, von jedem
beliebigen Ort stammen zu können. Er trug eine Kutte, die einmal weiß gewesen sein mochte, jetzt aber Dutzende von Flecken und Flicken
aufwies. Die Sandalen waren mit Bindfaden repariert. Lu-Tzes Lippen
formten ein beständiges freundliches Lächeln, als erwartete er die ganze Zeit über, dass irgendetwas Amüsantes geschah. Und er trug keinen Gürtel
– ein einfacher Strick hielt die Kutte geschlossen! Selbst einige Novizen schafften es, in ihrem ersten Jahr die Stufe eines Grauen Dongs zu
erreichen.
Im Dojo übten einige ranghohe Mönche. Lobsang wich zur Seite, als
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zwei Kämpfer an ihm vorbeiwirbelten. Ihre Arme und Beine bewegten
sich so schnell, dass sie zu Schemen wurden, als jeder von ihnen beim anderen nach einer Blöße suchte. Die Zeit wurde in immer kleinere
Scheiben geschnitten…
»Du! Kehrer!«
Lobsang sah sich um, doch der Ruf galt Lu-Tze. Ein Ting, offenbar gerade erst zum Dritten Djim befördert – der Gürtel schien noch recht neu zu sein –, schritt dem kleinen Mann entgegen, das Gesicht rot vor Zorn.
»Was hast du hier zu suchen, Schmutzwegräumer? Diesen Ort darfst
du nicht betreten!«
Lu-Tzes Lächeln veränderte sich nicht. Er griff in seine Kutte und
holte einen kleinen Beutel hervor.
»Es ist eine Abkürzung«, sagte er, nahm ein wenig Tabak aus dem
Beutel und rollte sich eine Zigarette, während der Ting vor ihm aufragte.
»Und hier ist es überall schmutzig. Ich sollte ein Wörtchen mit dem
Mann reden, der hier sauber macht.«
»Wie kannst du es wagen, so frech zu sein!«,
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