Der Zeitdieb
was bedeutete, dass sie sich nur geringfügigen und gesellschaftlich akzeptablen Wahnsinn erlaubten.
Aber er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, jemals für eine geistig gesunde Person tätig gewesen zu sein.
Man hielt jemanden für verrückt, der sich Schrauben in die Nase
steckte, überlegte Igor. Sie zu sortieren und in einzelnen Fächern
aufzubewahren, war das genaue Gegenteil. In einem solchen Verhalten
musste also geistige Gesundheit zum Ausdruck kommen.
Nun, vielleicht nicht unbedingt…
Igor lächelte. Er fühlte sich bereits wie zu Hause.
Lu-Tze der Kehrer hielt sich im Garten der fünf Überraschungen auf
und kümmerte sich dort um seine Berge. Der Besen lehnte an einer
Hecke.
Wenn er den Kopf drehte, sah er die große Statue des ewig
überraschten Wen. Sie ragte weit aus dem Tempelpark auf, und das
steinerne Gesicht mit den großen Augen zeigte, ja, angenehme
Überraschung.
Als Hobby eignen sich Berge vor allem für Leute, von denen es
normalerweise heißt, dass sie viel Zeit haben. Aber Lu-Tze hatte keine Zeit. Die Zeit war etwas, mit dem es vor allem andere Personen zu tun 45
bekamen. Er betrachtete sie auf die gleiche Weise, in der Leute am Ufer das Meer betrachteten. Es war groß und da draußen, und manchmal
mochte es erfrischend sein, die Zehen hineinzutauchen, aber man konnte nicht die ganze Zeit über darin leben. Außerdem wurde seine Haut
davon immer schrumpelig.
Im Augenblick – im nie endenden, immer wieder neu erschaffenen
Moment dieses friedlichen, sonnigen Tals – hantierte er mit kleinen
Spiegeln, Schaufeln, morphischen Resonatoren und noch seltsameren
Dingen, die nötig waren, um einen Berg nicht höher als etwa fünfzehn Zentimeter wachsen zu lassen.
Die Kirschbäume blühten nach wie vor. Sie blühten immer. Es gongte
irgendwo im Innern des Tempels. Einige weiße Tauben stiegen vom
Dach des Klosters auf.
Ein Schatten fiel auf den Berg.
Lu-Tze sah zu der Person, die den Garten betreten hatte. Er vollführte kurz die Geste der Knechtschaft und richtete dann einen fragenden Blick auf den verärgert wirkenden Jungen in der Novizenkutte.
»Ja, Meister?«, fragte er.
»Ich suche einen gewissen Lu-Tze«, sagte der Junge. »Um ganz ehrlich zu sein: Ich glaube gar nicht, dass es ihn wirklich gibt.«
Lu-Tze achtete nicht darauf. »Die Vergletscherung hat eingesetzt«,
meinte er. »Endlich. Siehst du, Meister? Der Gletscher ist nur einen Zoll lang, aber er hat sich bereits ein eigenes kleines Tal gegraben.
Wundervoll, nicht wahr?«
»Ja, ja, sehr gut«, erwiderte der Novize und versuchte, höflich zu einem Untergebenen zu sein. »Ist dies nicht der Garten von Lu-Tze?«
»Meinst du Lu-Tze, der für seine Bonsai-Berge bekannt ist?«
Der Novize hob den Blick von der Tellerreihe und blickte in ein
faltiges, lächelndes Gesicht.
» Du bist Lu-Tze? Aber du bist doch nur ein Kehrer! Ich habe gesehen, wie du in unserem Schlafsaal gefegt hast! Man hat dich getreten!«
Lu-Tze schien dies gar nicht zu hören und hob einen etwa dreißig
Zentimeter durchmessenden Teller, auf dem ein kleiner aschiger Kegel rauchte.
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»Was hältst du hiervon, Meister?«, fragte er. »Ein Vulkan. Es ist
verdammt schwer, einen Vulkan zu bekommen, entschuldige bitte mein
Klatschianisch.«
Der Novize trat einen Schritt vor, bückte sich und sah dem Kehrer
direkt in die Augen.
Lu-Tze ließ sich nur selten beunruhigen, aber diesmal erzitterte etwas in ihm.
»Du bist Lu-Tze?«
»Ja, mein Junge. Ich bin Lu-Tze.«
Der Novize holte tief Luft und streckte einen dünnen Arm aus. Die
Hand daran hielt eine kleine Schriftrolle.
»Vom Abt… äh, Ehrwürdiger!«
Die Schriftrolle wackelte zwischen nervösen Fingern.
»Die meisten Leute nennen mich Lu-Tze oder ›Kehrer‹«, sagte Lu-Tze
und sammelte die Werkzeuge ein. »Bis sie mich besser kennen lernen,
nennen sie mich manchmal ›Aus dem Weg mit dir‹. Ich bin nie sehr
ehrwürdig gewesen, es sei denn, jemand hat sich mehrere
Rechtschreibfehler geleistet.«
Er hielt nach einer kleinen Schaufel Ausschau, die er für
Gletscherarbeiten benutzte. Eben hatte er sie doch noch in der Hand
gehabt.
Der Novize beobachtete ihn mit einer Mischung aus Ehrfurcht und
einem Rest von Argwohn. Ein Ruf wie der von Lu-Tze sprach sich
herum. Dies war der Mann, der… Nun, er hatte praktisch alles getan, wenn man den Gerüchten Glauben schenken konnte. Aber er sah nicht danach aus. Vor dem Novizen stand ein kleiner,
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