Der Zeitdieb
sich dem richtigen Loch zu.«
»Eine Art von Glucks Telepathie?«
»Ich glaube, wir wären in großen Schwierigkeiten, wenn ein einfacher Apparat ein eigenes Bewusstsein hätte«, sagte Lu-Tze. Er holte tief Luft.
»Im Saal des Mandala sah er die Muster im Chaos.«
»Du hast einem Neophyten das Mandala gezeigt?«, fragte der Chefakolyth Rinpo entsetzt.
»Wenn man herausfinden möchte, ob jemand schwimmen kann, stößt
man ihn in den Fluss«, erwiderte Lu-Tze und zuckte mit den Schultern.
»Welche andere Möglichkeit gibt es?«
»Aber das Mandala ohne eine richtige Ausbildung zu betrachten…«
»Er hat die Muster erkannt«, sagte Lu-Tze. »Und er reagierte auf das Mandala.« Er fügte nicht hinzu: Und das Mandala reagierte auf ihn.
Darüber wollte er erst noch nachdenken. Wenn man in den Abgrund
blickt, so rechnet man nicht damit, dass er winkt.
»Trotzdem ist so etwas Teddyteddyteddywahwah streng verboten«, sagte der Abt. Unbeholfen tastete er zwischen den Spielzeugen auf der Matte umher, griff nach einem großen Holzklotz mit dem Bild eines Elefanten und warf ihn nach Rinpo. »Manchmal nimmst du dir zu viel heraus,
Kehrer schau ‘lefant !«
Die Akolythen applaudierten und lobten auf diese Weise die Fähigkeit des Abts, Tiere zu erkennen.
»Er sah die Muster. Er weiß, was geschieht. Er weiß nur nicht, was er weiß«, betonte Lu-Tze. »Nur wenige Sekunden, nachdem wir uns zum
ersten Mal gegenübertraten, stahl er mir ein kleines Objekt, und ich frage mich noch immer, wie er das angestellt hat. Kann er ohne Ausbildung
wirklich so schnell sein? Wer ist dieser Junge?«
Wer ist diese junge Frau?
Madame Frout, Rektorin der Frout-Akademie und Pionier der »Frout-
Methode für Lernen durch Spaß«, stellte sich oft diese Frage, wenn sie mit Fräulein Susanne sprechen musste. Natürlich war sie nur eine
Angestellte, aber… Madame Frout kam nicht besonders gut mit
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Disziplin zurecht, was vermutlich einer der Gründe dafür war, dass sie ihre Methode entwickelt hatte, die keine Disziplin erforderte.
Normalerweise verließ sie sich darauf, in einem fröhlichen Ton mit den Leuten zu reden, bis diese deswegen in Verlegenheit gerieten.
Fräulein Susanne schien nie wegen irgendetwas in Verlegenheit zu
geraten.
»Der Grund, warum ich dich hierher gebeten habe, Susanne, ist…
äh… Der Grund ist…« Madame Frout suchte vergeblich nach den
richtigen Worten.
»Hat sich jemand über mich beschwert?«, fragte Fräulein Susanne.
»Äh, nein… äh… Allerdings hat Fräulein Schmitt darauf hingewiesen,
dass die Kinder deiner Klasse, äh, unruhig sind. Unglücklicherweise
können sie recht gut lesen…«
»Frau Schmitt glaubt, in einem guten Buch geht es um einen Jungen
und seinen Hund, die einem roten Ball nachlaufen«, sagte Fräulein
Susanne. »Meine Schüler haben gelernt, eine Handlung zu erwarten. Kein Wunder, dass sie unruhig werden. Wir lesen gerade die Grimmigen
Märchen. «
»Das ist sehr unhöflich von dir, Susanne.«
»Ganz im Gegenteil, Madame. Es ist sehr freundlich von mir. Unhöflich wäre ich gewesen, wenn ich gesagt hätte, dass ein Teil der Hölle für Lehrerinnen wie Frau Schmitt reserviert ist.«
»Aber das ist ein schreckl…« Madame Frout unterbrach sich und
begann noch einmal. »Du hättest ihnen das Lesen noch gar nicht
beibringen sollen!«, sagte sie, und versuchte ohne großen Erfolg, scharf zu sprechen – ihre Stimme blieb stumpf. Sie schauderte unwillkürlich, als Fräulein Susanne zu ihr aufsah. Die junge Frau war dazu fähig, einem ihre volle Aufmerksamkeit zu schenken. Man musste eine gefestigtere Person sein als Madame Frout, um die Intensität ihrer Aufmerksamkeit zu
überleben. Sie inspizierte die Seele und malte rote Kringel um die Teile, die ihr nicht gefielen. Wenn Fräulein Susanne jemanden ansah, so schien sie Noten zu verteilen.
»Ich meine«, murmelte die Rektorin, »die Kindheit ist eine Zeit zum
Spielen und…«
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»Und zum Lernen«, sagte Fräulein Susanne.
»Zum Lernen durch Spielen «, betonte Madame Frout und war froh, dass sie wieder vertrautes Terrain erreicht hatte. »Denk nur an Kätzchen und Hündchen…«
»… die zu Katzen und Hunden werden, was sie noch uninteressanter
macht«, sagte Fräulein Susanne. »Kinder hingegen sollten zu
Erwachsenen heranwachsen.«
Madame Frout seufzte. Ganz gleich, auf welche Weise sie sich
bemühte – sie kam einfach nicht weiter. So war es immer. Sie begriff, dass sie machtlos war,
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