Der Zeitdieb
Nun, es war allgemein bekannt,
dass Kinder über eine lebhafte Fantasie verfügten.
Trotzdem gab es da diesen Aufsatz von Richenda Higgs. Madame
Frout suchte nach ihrer Brille – sie trug sie an einer Schnur um den Hals, weil sie zu eitel war, sie die ganze Zeit auf der Nase zu haben –, setzte sie auf und las:
»Ein Mann aus Knochen kam zu uns er war gar nicht
gruhselig und hatte ein großes weißes Ferd. Wir haben das Ferd
gestreichelt. Er hatte eine Sennse. Er erzählte uns interessante Dinge und meinte wir sollen vorsichtig sein wenn wir über die
Straße gehen.«
Madame Frout reichte das Blatt Fräulein Susanne, die es ernst
betrachtete. Sie korrigierte einige Wörter und gab das Blatt zurück.
»Nun?«, fragte Madame Frout.
»Ich fürchte, mit den Satzzeichen kommt sie noch nicht gut zurecht.
Und die Rechtschreibfehler fallen in diesem Stadium noch nicht sehr ins Gewicht.«
»Wer… Was hat es mit dem großen weißen Pferd im Klassenzimmer
auf sich?«, brachte Madame Frout hervor.
Fräulein Susanne musterte sie mitleidig. »Madame, wie könnte ein Pferd 74
ins Klassenzimmer gelangen? Es müsste zwei Treppen emporklettern.«
Diesmal wollte sich Madame Frout nicht geschlagen geben. Sie hob
einen zweiten Aufsatz.
»Heute hat Herr Schlampf zu uns gesprochen, er ist ein
Schwarzer Mann aber ein guter. Er hat uns gesagt wie man die
andere Art behandelt. Man kann sich die Decke über den Kopf
ziehen aber besser ist es, wenn man sie dem Schwarzen Mann
über den Kopf zieht denn dann denkt er das er gar nicht
eksistiert und dann verschwindet er. Er erzählte uns
Geschichten darüber wie er Leuten aufgelauert hat, und er
meinte da Fräulein Susanne unsere Lehrerin ist glaubt er nicht
das sich böse Schwarze Männer bei uns daheim ferbergen, denn
kein böser Schwarzer Mann möchte von Fräulein Susanne
gefunden werden.«
»Schwarze Männer, Susanne?«, fragte Madame Frout.
»Kinder haben erstaunlich viel Vorstellungskraft«, sagte Fräulein
Susanne, ohne die Miene zu verziehen.
»Machst du kleine Kinder mit dem Okkulten vertraut?«, fragte Madame
Frout argwöhnisch. Sie wusste, dass sich daraus Probleme mit den Eltern ergeben konnten.
»O ja.«
»Was? Warum?«
»Damit es später kein Schock wird«, erwiderte Fräulein Susanne ruhig.
»Aber Frau Robertson hat mir gesagt, ihre Emma ginge durchs Haus
und suchte in den Schränken nach Ungeheuern! Und bisher hatte sie
immer Angst vor ihnen!«
»Hatte sie einen Knüppel?«, fragte Susanne.
»Sie nahm das Schwert ihres Vaters!«
»Gut.«
»Hör mal, Susanne… Ich glaube, ich weiß, worum es dir geht«, sagte
Madame Frout, die es eigentlich nicht wusste. »Aber Eltern verstehen so 75
etwas nicht.«
»Ja«, entgegnete Fräulein Susanne. »Manchmal denke ich, dass Eltern
eine richtige Prüfung bestehen müssten, bevor man ihnen erlauben kann, Eltern zu werden. Ich meine, nicht nur den praktischen Teil.«
»Trotzdem müssen wir ihre Meinungen respektieren«, sagte Madame
Frout, aber es fehlte ihren Worten an Nachdruck, da ihr gelegentlich ähnliche Gedanken durch den Kopf gingen.
Und dann die Sache mit dem Elternabend. Madame Frout war zu
angespannt gewesen, um darauf zu achten, was ihre neueste Lehrerin
machte. Sie sah nur, dass Susanne dasaß und ruhig mit Paaren sprach, bis Jasons Mutter nach einem Stuhl griff und Jasons Vater damit aus dem
Zimmer jagte. Am nächsten Tag traf von Jasons Mutter ein großer
Blumenstrauß für Susanne ein, und von Jasons Vater bekam sie einen
noch größeren.
Andere Paare wirkten nach dem Gespräch mit Susanne beunruhigt
oder von Sorgen gequält. Und als beim nächsten Mal das Schulgeld fällig wurde, stellte Madame Frout erstaunt fest, dass die Eltern bereitwillig zahlten.
Und so geschah es wieder: Madame Frout, die ständig an Dinge wie
Ruf, Kosten und Gebühren denken musste, hörte manchmal die leise
Stimme von Fräulein Frout, die eine gute, wenn auch schüchterne
Lehrerin gewesen war, und diese Stimme freute sich über Susanne.
Jetzt wirkte Susanne besorgt. »Bist du mit meiner Arbeit nicht
zufrieden, Madame?«
Madame Frout wusste nicht, wie sie auf diese Frage antworten sollte.
Sie war tatsächlich nicht zufrieden, aber aus den falschen Gründen. Und ihr wurde allmählich klar, dass sie es nicht wagte, Fräulein Susanne den Laufpass zu geben oder gar zuzulassen, dass sie von selbst ging. Wenn sie eine Schule gründete und sich die Sache herumsprach, so würde »Lernen
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