Der Zeitdieb
denn die Sache mit Fräulein Susanne sprach sich immer weiter herum. Besorgte Eltern hatten ihre Hoffnung auf »Lernen durch Spaß« gesetzt, weil »Lernen, indem man auf das hört, was einem gesagt wird« bei ihren Sprösslingen offenbar nicht funktionierte. Jetzt stellten sie fest, dass ihre Kinder ein wenig ruhiger, nachdenklicher und mit vielen Hausaufgaben heimkehrten, die sie erstaunlicherweise
erledigten, ohne dass man sie dazu auffordern musste. Und der Hund
half ihnen dabei.
Außerdem brachten sie Geschichten über Fräulein Susanne mit.
Fräulein Susanne beherrschte alle Sprachen. Fräulein Susanne wusste
alles über alles. Fräulein Susanne hatte wundervolle Ideen für
Schulausflüge…
Und das fand Madame Frout besonders seltsam, denn offiziell war kein einziger Ausflug veranstaltet worden, soweit sie wusste. Wenn sie an Fräulein Susannes Klassenzimmer vorbeikam, herrschte dort immer
geschäftige Stille. Das ärgerte sie, denn es erinnerte an die schlechte alte Zeit, als Kinder reglementiert wurden, in Klassenzimmern, die
Folterkammern für kleine Seelen waren. Andere Lehrer hörten
gelegentlich Geräusche, die von Wellen oder einem Dschungel zu
stammen schienen. Einmal hätte Madame Frout schwören können, dass
hinter der Tür des Klassenzimmers eine Schlacht tobte. Bei »Lernen
durch Spaß« geschah so etwas häufiger, aber diesmal waren auch
Fanfaren, das Zischen von Pfeilen sowie die Schreie der Verwundeten
und Sterbenden dabei. Das ging eindeutig zu weit.
Bei jener Gelegenheit hatte sie die Tür aufgerissen und gespürt, wie etwas über ihren Kopf hinwegflog. Sie erinnerte sich an eine Susanne, 72
die auf ihrem Stuhl saß und aus einem Buch vorlas. Die Schüler saßen im Schneidersitz und bildeten einen stillen, faszinierten Halbkreis um ihre Lehrerin. Es war genau die Art von altmodischem Bild, die Madame
Frout verabscheute – die Kinder schienen Bittsteller vor dem Altar des Wissens zu sein.
Niemand hatte ein Wort gesprochen. Das Schweigen der Kinder und
von Fräulein Susanne vermittelte eine deutliche Botschaft: Sie warteten darauf, dass die Rektorin wieder ging.
Madame Frout war in den Flur geflohen und hörte, wie die Tür hinter
ihr ins Schloss fiel. Dann bemerkte sie den langen, primitiven Pfeil, der in der gegenüberliegenden Wand des Korridors steckte und noch immer
zitterte.
Sie hatte noch einmal zur Tür gesehen, die in einem vertrauten Grün
lackiert war, um den Blick dann wieder auf die Wand zu richten.
Der Pfeil war verschwunden.
Sie wies Jason der Klasse von Fräulein Susanne zu. Das war grausam,
zugegeben, aber Madame Frout glaubte inzwischen, dass ein unerklärter Krieg stattfand.
Wenn Kinder Waffen wären, so hätte man Jason mit einer
internationalen Vereinbarung verboten. Jason hatte liebevolle Eltern und eine Aufmerksamkeitsspanne von minus einigen Sekunden, es sei denn,
es ging um Tierquälerei – dann konnte er sehr geduldig sein. Jason trat, schlug, biss und spuckte. Die von ihm gemalten Bilder erschreckten
sogar Fräulein Schmitt, der es normalerweise gelang, etwas Nettes über jedes Kind zu sagen. Er war eindeutig ein Junge mit besonderen
Erfordernissen. Im Lehrerzimmer vertrat man die Ansicht, dass die Liste mit Exorzismus begann.
Madame Frout hatte sich gebückt und am Schlüsselloch gelauscht.
Nach Jasons erstem Wutanfall an diesem Tag wurde es still, und die
Rektorin konnte nicht genau verstehen, was Fräulein Susanne sagte.
Als sie eine halbe Stunde später einen Vorwand fand, das
Klassenzimmer zu betreten, half Jason zwei kleinen Mädchen, ein
Kaninchen aus Pappe zu basteln.
Später meinten seine Eltern, sie seien sehr überrascht von der
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Veränderung ihres Sohnes. Allerdings schlief er abends jetzt nur noch ein, wenn ein Licht brannte.
Madame Frout versuchte, ihre neueste Lehrerin zur Rede zu stellen.
Ihre Referenzen mochten so gut sein, dass sie gar nicht besser sein
konnten, aber sie blieb eine Angestellte. Das Problem war nur: Fräulein Susanne gab Antworten, die Madame Frout nach dem Gespräch
zufrieden in ihr Büro zurückkehren ließen – damit sie dort begriff, dass sie eigentlich gar keine richtigen Antworten bekommen hatte. Aber dann war es bereits zu spät.
Und es war weiterhin zu spät, denn plötzlich hatte die Schule eine
Warteliste. Eltern versuchten alles, um für ihre Kinder einen Platz in Fräulein Susannes Klasse zu bekommen. Was einige der Geschichten
betraf, die sie nach Hause brachten…
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