Der Zeitdieb
nicht nach unten !… und ich bringe uns zur gegenüberliegenden Seite, in Ordnung?«
»Ich, äh, habe mich an… die Stadt erinnert, an die Begegnung mit
Soto… Ich habe mich erinnert«, stammelte Lobsang und folgte dem
Mönch mit unsicheren Schritten.
»Das war zu erwarten«, erwiderte Lu-Tze.
»Aber ich habe mich an die Stadt erinnert, um mich dort daran zu
erinnern, dass ich hier bin, bei dir und dem Mandala!«
»Steht in den heiligen Texten nicht geschrieben ›Es geschehen viele
Dinge, über die wir nichts wissen, meiner Meinung nach‹?«, entgegnete Lu-Tze.
»Ich… entsinne mich nicht daran, solche Worte gelesen zu haben,
Kehrer«, sagte Lobsang. Er spürte kühlere Luft, was darauf hinwies, dass sie den Felstunnel auf der anderen Seite des riesigen Raums erreicht hatten.
»In den hiesigen Schriften wirst du leider vergeblich danach Ausschau halten«, meinte Lu-Tze. »Ah, du kannst die Augen jetzt wieder öffnen.«
Sie gingen weiter, und Lobsang rieb sich die Stirn, um seine seltsamen Gedanken zu verscheuchen.
Hinter ihnen verblassten und verflüchtigten sich die dunklen Wirbel, die sich an der Stelle gebildet hatten, wo Lobsang ins Mandala gefallen wäre.
Nach der Ersten Schriftrolle des ewig überraschten Wen
erreichten Wen und Tolpatsch das grüne Tal zwischen den
hohen Bergen, und Wen sagte: »Dies ist der Ort. Hier wird ein
Tempel stehen, dem Falten und Entfalten der Zeit gewidmet.
Ich kann ihn sehen.«
»Ich nicht, Meister«, erwiderte Tolpatsch.
»Er steht dort drüben.« Wen deutete in die entsprechende
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Richtung, und sein Arm verschwand.
»Ah«, sagte Tolpatsch. » Dort drüben.«
Einige Blütenblätter schwebten auf Wens Kopf herab. Sie
stammten von den Kirschbäumen, die an den Bächen wuchsen.
»Und dieser perfekte Tag wird ewig dauern«, sagte er. »Die
Luft ist frisch, die Sonne scheint, und Eis treibt auf den Bächen.
Jeder Tag in diesem Tal wird dieser perfekte Tag sein.«
»Könnte eintönig werden, Meister«, gab Tolpatsch zu
bedenken.
»Diesen Eindruck hast du, weil du nicht weißt, wie man mit der
Zeit umgeht«, sagte Wen. »Ich werde dich lehren, mit der Zeit
so umzugehen wie mit einem Mantel, den du trägst, wenn es
notwendig ist, und den du abstreifst, wenn du ihn nicht
brauchst.«
»Muss ich ihn waschen?«, fragte Tolpatsch.
Wen maß ihn mit einem durchdringenden Blick. »Das war
entweder eine sehr komplexe Überlegung, Tolpatsch, oder du
hast auf eine recht dumme Weise versucht, eine Metapher zu
sehr zu beanspruchen. Welche dieser beiden Möglichkeiten
trifft deiner Meinung nach zu?«
Tolpatsch starrte auf seine Füße hinab, sah dann zum Himmel
hinauf und richtete den Blick schließlich auf Wen.
»Ich glaube, ich bin dumm, Meister.«
»Gut«, sagte Wen. »Es ist ein glücklicher Zufall, dass du mein
Schüler bist, Tolpatsch, denn wenn ich fähig bin, dir etwas
beizubringen, so kann ich jeden unterrichten.«
Tolpatsch wirkte erleichtert und verbeugte sich. »Du erweist mir
zu viel Ehre, Meister.«
»Mein Plan hat noch einen zweiten Teil«, sagte Wen.
»Ah«, erwiderte Tolpatsch mit einem Gesichtsausdruck, von
dem er glaubte, dass er damit klug aussah. Doch in Wirklichkeit
wirkte er wie jemand, der sich an schmerzvolle
Verdauungsstörungen erinnerte. »Ein Plan mit einem zweiten
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Teil ist immer ein guter Plan, Meister.«
»Besorge mir Sand in allen Farben, und einen flachen Felsen.
Ich werde dir zeigen, wie man die Strömungen der Zeit sichtbar
machen kann.«
»Oh, gut.«
»Und mein Plan hat noch einen dritten Teil.«
»Einen dritten Teil?«
»Ich kann einige Talentierte lehren, ihre Zeit zu kontrollieren,
sie langsamer und schneller verstreichen zu lassen, sie zu
speichern und in eine beliebige Richtung zu lenken, so wie das
Wasser der Bäche. Doch ich fürchte, die meisten Leute
gestehen sich solche Fähigkeiten selbst nicht zu. Wir müssen
ihnen helfen. Wir werden… Apparate bauen, die Zeit
aufbewahren und sie dort freisetzen, wo sie gebraucht wird. Die
Menschheit kann sich nicht weiterentwickeln, wenn sie
dahintreibt wie Blätter auf einem Fluss. Die Menschen müssen
imstande sein, Zeit zu vergeuden, neue Zeit zu schaffen, Zeit
zu verlieren und zu kaufen. Darin wird unsere wichtigste
Aufgabe bestehen.«
Tolpatsch schnitt eine Grimasse, als er zu verstehen versuchte.
Schließlich hob er langsam die Hand.
Wen seufzte.
»Du willst mich fragen, was mit dem Mantel passiert ist, nicht
wahr?«,
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