Der Zeitdieb
durch Spaß« Schüler und damit auch Schulgeld verlieren.
»Nun, ich… nein, natürlich nicht, aber…«, begann sie und merkte, dass Fräulein Susanne an ihr vorbeisah.
Sie bemerkte… Madame Frout griff nach ihrer Brille und stellte fest, dass sich die Schnur an den Knöpfen der Bluse verheddert hatte. Sie
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blickte zum Kaminsims und sah dort einen Schemen.
»Nun, das scheint… eine weiße Ratte mit einem kleinen schwarzen
Kapuzenmantel zu sein«, sagte sie. »Und sie läuft auf den Hinterbeinen!
Siehst du sie ebenfalls?«
»Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wieso eine Ratte
einen Kapuzenmantel tragen sollte«, erwiderte Fräulein Susanne. Dann seufzte sie und schnippte mit den Fingern. Das Fingerschnippen war
nicht unbedingt erforderlich, aber die Zeit hielt an.
Zumindest hielt sie für alle anderen an, nur nicht für Fräulein Susanne.
Und auch nicht für die Ratte auf dem Kaminsims.
Die eigentlich das Skelett einer Ratte war, was sie aber nicht daran hinderte, Süßigkeiten aus Madame Frouts »Glas für brave Kinder« zu
stehlen.
Susanne trat näher und griff nach dem Kragen des kleinen
Kapuzenmantels.
QUIEK?, fragte der Rattentod.
»Ich hab mir gedacht, dass du es bist!«, zischte Susanne. »Wie kannst du es wagen, noch einmal hierher zu kommen! Habe ich dir nicht deutlich genug zu verstehen gegeben, was ich von deinen Besuchen halte? Und
glaub bloß nicht, ich hätte dich nicht gesehen, als du im vergangenen Monat gekommen bist, um Henry den Hamster zu holen! Weißt du
eigentlich, wie schwer es ist, Geographie zu unterrichten, wenn jemand Hamsterkot aus einer Tretmühle tritt?«
Die Ratte kicherte. SNH. SNH. SNH.
»Und du stiehlst Süßigkeiten! Leg das Bonbon sofort zurück!«
Susanne ließ die Ratte vor der erstarrten Madame Frout auf den
Schreibtisch fallen und zögerte.
Sie versuchte immer, sich zurückzuhalten, aber manchmal musste man
der eigenen Natur genügen. Sie zog die unterste Schublade des
Schreibtischs auf und prüfte den Pegel der Flasche, mit dem sich
Madame Frout in der wundervollen Welt der Bildung tröstete. Zufrieden stellte Susanne fest, dass die Rektorin nicht mehr so viel trank. Die meisten Leute haben ein Mittel, mit dem sie die Lücke zwischen
Wahrnehmung und Wirklichkeit füllen, und unter solchen Umständen
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gab es Schlimmeres als Gin.
Anschließend ging sie Madame Frouts persönliche Papiere durch, und
dies muss über Susanne gesagt werden: Sie glaubte nicht, dass daran
etwas falsch war, räumte allerdings ein, dass so etwas falsch sein konnte, wenn man nicht Susanne Sto Helit hieß. Die Papiere befanden sich in
einem recht guten Safe, der selbst einem geschickten Dieb mindestens zwanzig Minuten lang Widerstand geleistet hätte. Seine Tür schwang
sofort auf, als Susanne sie berührte, ein Zeichen dafür, dass in diesem Fall besondere Regeln galten.
Für Fräulein Susanne gab es keine verschlossenen Türen. Das lag in
der Familie. Manchmal werden Gene auch über die Seele weitergereicht.
Als sie sich über die Angelegenheiten der Schule informiert hatte –
hauptsächlich deswegen, um der Ratte zu zeigen, dass man nicht einfach so ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen konnte –, stand sie
schließlich auf.
»Na schön«, sagte sie müde. »Du hast vor, mich weiter zu belästigen, nicht wahr? Für immer und immer und immer.«
Der Rattentod sah sie an und neigte dabei den Kopf zur Seite.
QUIEK, sagte er gewinnend.
»Nun, ja, ich mag ihn«, sagte Susanne. »In gewisser Weise. Aber, ich meine, es ist nicht richtig. Warum braucht er mich? Er ist der Tod und damit nicht unbedingt machtlos! Ich bin nur ein Mensch!«
Die Ratte quiekte erneut, sprang zu Boden und lief durch die
geschlossene Tür. Dann kehrte sie zurück und winkte.
»Na schön«, sagte Susanne zu sich selbst. »Ich bin größtenteils ein Mensch.«
Tick
Und wer ist dieser Lu-Tze?
Früher oder später stellte sich jeder Novize diese recht komplexe
Frage. Manchmal dauerte es Jahre, bis sie herausfanden: Jener kleine Mann, der überall fegte, ohne zu klagen die Aborte der Schlafsäle reinigte 78
und gelegentlich aus seltsamen Texten zitierte, die niemand kannte, war der legendäre Held, von dem es geheißen hatte, dass sie ihm eines Tages begegnen würden. Und wenn sie ihm dann gegenübertraten, stellten sich die klügsten von ihnen ihrem eigenen Selbst.
Die meisten Kehrer stammten aus den Dörfern im Tal. Sie gehörten
zum Personal des Klosters,
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