Der Zeitdieb
Vielfraß.«
»Keine besonderen Kampftechniken?«, fragte Lobsang.
»Oh, immer als letztes Mittel. Historische Strukturen brauchen Hirten, keine Schlächter.«
»Kennst du Okidoki ?«
»Nur einige komisch aussehende Sprünge.«
»Shiitake?«
»Wenn es mir in den Sinn käme, die Hand in heißen Sand zu stecken,
würde ich ans Meer fahren.«
»Upsidazi?«
»Verschwendung von guten Ziegeln.«
»No kando?«
»Das hast du gerade erfunden.«
»Tung-Pi?«
»Unhöfliche Blumenarrangements.«
»Sna-fu?«
»Holz hackt man besser mit der Axt«, sagte Lu-Tze. »Nein, zu Gewalt
greift nur der Gewaltsame. Wenn man bedrängt wird, genügt in den
meisten Fällen ein Besen.«
»Nur in den meisten, wie?« Lobsang versuchte nicht, den Sarkasmus zu verbergen.
»Oh, ich verstehe. Möchtest du mir im Dojo gegenübertreten? Denn eine sehr alte Wahrheit lautet: Wenn der Schüler den Lehrer schlägt, kann der Lehrer dem Schüler nichts mehr beibringen, und dann ist der Schüler
kein Schüler mehr. Möchtest du lernen?«
»Ah! Ich wusste, dass es etwas zu lernen gibt!«
Lu-Tze stand auf. »Warum du?«, fragte er. »Warum hier? Warum jetzt?
›Es gibt eine Zeit und einen Ort für alles.‹ Warum diese Zeit und dieser Ort? Wenn ich dich zum Dojo mitnehme, gibst du zurück, was du mir
gestohlen hast! Sofort!«
Er blickte zum Tisch aus Teakholz, wo er an seinen Bergen arbeitete.
Die kleine Schaufel lag dort.
111
Einige Kirschbaum-Blütenblätter sanken zu Boden.
»Ich verstehe«, sagte Lu-Tze. »So schnell bist du? Ich habe dich nicht gesehen.«
Lobsang schwieg.
»Es ist ein kleines, wertloses Objekt«, sagte Lu-Tze. »Warum hast du es gestohlen?«
»Um festzustellen, ob ich es stehlen konnte. Ich langweilte mich.«
»Ah. Mal sehen, ob wir dein Leben interessanter gestalten können.
Kein Wunder, dass du dich langweilst, wenn du die Zeit schon so gut
schneiden kannst.«
Lu-Tze drehte die kleine Schaufel hin und her.
»Sehr schnell«, sagte er, bückte sich und blies die Blütenblätter von einem winzigen Gletscher. »Du schneidest die Zeit so schnell wie ein Zehnter Djim. Und doch stehst du erst am Anfang deiner Ausbildung.
Du musst ein großartiger Dieb gewesen sein! Und jetzt… Oh, meine
Güte, ich muss dir im Dojo gegenübertreten…«
»Nein, das ist nicht nötig«, sagte Lobsang hastig, denn jetzt wirkte Lu-Tze ängstlich und gedemütigt. Er schien irgendwie kleiner und
gebrechlicher geworden zu sein.
»Ich bestehe darauf«, sagte der Alte. »Lass es uns gleich hinter uns bringen, denn es steht geschrieben: ›Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.‹ Das ist Frau Kosmopilits wichtigste
Erkenntnis.« Er seufzte und blickte an der großen Statue von Wen
empor.
»Sieh ihn dir nur an«, sagte er. »Beneidenswert, nicht wahr? Empfand so viel Glück über die Existenz des Universums. Sah Vergangenheit und Zukunft als eine lebende Person. Schrieb die Bücher der Geschichte, um festzuhalten, welchen Verlauf die Geschichte nehmen sollte. Wir können uns kaum vorstellen, was diese Augen gesehen haben. Und zeit seines
Lebens hat er nie die Hand gegen jemanden erhoben.«
»Hör mal, ich wollte wirklich nicht…«
»Und hast du dir die anderen Statuen angesehen?«, fragte Lu-Tze, als hätte er das Dojo völlig vergessen.
112
Verwundert folgte Lobsang seinem Blick. Auf der erhöhten steinernen
Plattform, die an der einen Seite des Gartens entlangreichte, standen Hunderte von kleineren Statuen, die meisten von ihnen aus Holz und
mit bunten Farben bemalt. Geschöpfe mit mehr Augen als Beinen, mehr
Schwänze als Zähne, monströse Mischungen aus Fisch, Krake, Tiger und Pastinake. Wesen, die aussahen, als hätte der Schöpfer des Universums seine Kiste mit Ersatzteilen ausgeschüttet und sie zusammengeklebt.
Rosarot, orange, purpurn und golden bemalte Wesen blickten über das
Tal.
»Oh, die Dhlang …«, begann Lobsang.
»Dämonen«, erwiderte der Kehrer. »Das ist ein Wort für sie. Der Abt
nannte sie ›Feinde des Geistes‹. Wen schrieb eine Schriftrolle über sie, weißt du. Und er meinte, das sei die schlimmste Kreatur.«
Er deutete auf eine Gestalt, die nur aus einer grauen Kutte zu bestehen schien und inmitten der Ungeheuer fehl am Platz wirkte.
»Sieht nicht sehr gefährlich aus«, sagte Lobsang. »Nun, Kehrer, ich
möchte nicht…«
»Was nicht gefährlich aussieht, kann sehr gefährlich sein«, meinte Lu-Tze. »Dinge, die nicht gefährlich wirken… Das macht
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