Der Zeitdieb
Nun… damals waren die Mönche ziemlich beansprucht, aber es gab da einen jungen Kehrer…«
»Du meinst dich selbst«, warf Lobsang ein. »Das stimmt doch?«
»Ja, ja«, sagte Lu-Tze gereizt. »Man schickte mich nach Überwald. In der historischen Struktur gab es noch keine großen Unterschiede, und wir wussten, dass im Bereich von Bad Schüschein etwas Wichtiges
passieren würde. Wochenlang habe ich gesucht. Weißt du, wie viele
abgelegene Schlösser es in den Schluchten gibt? Es wimmelt davon!«
»Deshalb hast du das richtige Schloss nicht rechtzeitig gefunden«,
vermutete Lobsang. »Ich habe gehört, was du dem Abt gesagt hast.«
»Ich hielt mich im Tal auf, als der Blitz den Turm traf«, berichtete Lu-Tze. »Du weißt ja, dass geschrieben steht: ›Große Ereignisse werfen
ihren Schatten voraus.‹ Aber ich konnte nicht feststellen, wo es geschehen würde – bis es zu spät war. Eine halbe Meile bergauf sprinten, schneller als der Blitz… Niemand kann das. Trotzdem hätte ich es fast geschafft.
Ich war gerade durch die Tür, als das Chaos ausbrach!«
»Du hast wirklich keinen Grund, dir Vorwürfe zu machen.«
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»Nein. Aber du weißt ja, wie das ist. Man denkt immer wieder: ›Wenn
ich früher aufgestanden wäre oder einen anderen Weg genommen
hätte…‹«
»Und die Uhr schlug«, sagte Lobsang.
»Nein. Sie blieb stehen. Wie gesagt: Ein Teil von ihr befand sich außerhalb des Universums und bewegte sich nicht mit dem Fluss. Dieser Teil versuchte, das Ticken zu messen, anstatt sich mit ihm zu bewegen.«
»Aber das Universum ist gewaltig! Es kann doch nicht von einer Uhr
angehalten werden!«
Lu-Tze schnippte den Zigarettenstummel ins Feuer.
»Der Abt meint, es käme nicht auf die Größe an«, sagte er. »Hör mal, er hat neun Leben gebraucht, um zu wissen, was er weiß. Es ist also
nicht unsere Schuld, wenn wir es nicht verstehen. Die historische
Struktur zerbrach. Es war die einzige Sache, die zerbrechen konnte. Eine sehr seltsame Angelegenheit. Überall bildeten sich Risse. Die – oh, ich erinnere mich nicht an die richtigen Bezeichnungen – Verschlüsse, die Teilen der Vergangenheit mitteilten, zu welchen Teilen der Gegenwart sie gehörten, lösten sich und flatterten überall herum. Einige gingen für immer verloren.« Lu-Tze starrte in die kleiner werdenden Flammen des Feuers. »Wir flickten alles, so gut wir konnten«, fügte er hinzu. »Überall in der Geschichte. Wir stopften Löcher mit Zeit von woanders.
Eigentlich ist alles ein großes Flickwerk.«
»Haben die Leute nichts gemerkt?«
»Warum sollten sie? Als wir fertig waren, gab es nie eine andere
Geschichte. Du würdest staunen, womit wir durchgekommen sind. Zum
Beispiel…«
»Ich bin sicher, dass man es irgendwie bemerken könnte.«
Lu-Tze warf Lobsang einen kurzen Blick zu. »Komisch, dass du das
sagst. Ich habe oft darüber nachgedacht. Man hört immer wieder
Bemerkungen wie ›Wo ist nur die Zeit geblieben?‹ und ›Es scheint erst gestern gewesen zu sein.‹ Nun, uns blieb keine Wahl, und es ist alles ganz gut verheilt.«
»Aber die Leute brauchen doch nur in den Geschichtsbüchern
nachzusehen und…«
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»Worte, Junge. Es sind nur Worte. Außerdem haben die Leute mit der
Zeit herumgepfuscht, seit sie Leute sind. Sie haben sie vergeudet, vertrieben, gespart und sich genommen. Und das geschieht noch immer.
Die Köpfe der Leute sind dazu geschaffen, mit der Zeit zu spielen. So wie wir. Mit dem Unterschied, dass wir besser ausgebildet sind und über
einige zusätzliche Fähigkeiten verfügen. Wir verbrachten Jahrhunderte damit, alles wieder in Ordnung zu bringen. Sieh dir die Zauderer an
einem ruhigen Tag an. Sie bewegen die Zeit, dehnen sie hier,
komprimieren sie dort… Eine großartige Sache. Ich möchte nicht
erleben, wie erneut alles dem Chaos anheim fällt. Beim zweiten Mal
bleibt vermutlich nicht genug für eine Reparatur übrig.«
Lu-Tze starrte in die glühende Asche. »Komisch«, sagte er. »Wen hatte zum Schluss einige sonderbare Vorstellungen in Bezug auf die Zeit. Er schrieb einige wundersame Dinge. Er hielt die Zeit für lebendig. Er
meinte, sie verhielte sich wie ein lebendes Wesen. Sehr seltsame
Vorstellungen. Er behauptete sogar, der Zeit begegnet zu sein. Angeblich ist sie eine Frau. Zumindest war sie es für ihn. Alle glauben, dass es eine sehr komplexe Metapher ist, und vielleicht traf mich etwas am Kopf,
aber an jenem Tag sah ich die Glasuhr, als sie explodierte,
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