Der Zeitdieb
kannst du uns den Schmerz beschreiben? Wir haben uns immer gefragt, wie sich so etwas anfühlt.
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»Nein. Nein, ich glaube, dazu bin ich nicht in der Lage. Es ist… eine körperliche Angelegenheit, und eine unangenehme noch dazu. Von jetzt an werde ich diesen Körper behalten.«
Einer sagte: Das könnte gefährlich sein.
Lady LeJean zuckte mit den Schultern. »Wir haben schon einmal
darüber gesprochen. Es ist nur eine Frage des Erscheinungsbilds. Und ich finde es erstaunlich, wie viel leichter es mir in dieser Gestalt fällt, mit den Menschen umzugehen.«
Einer sagte: Du hast mit den Schultern gezuckt. Und du sprichst mit dem Mund. Einem für Nahrung und Luft bestimmten Loch.
»Ja. Bemerkenswert, nicht wahr?« Lady LeJeans Körper fand eine alte
Kiste und setzte sich darauf. Sie brauchte kaum mehr an
Muskelbewegungen zu denken.
Einer sagte: Du isst doch nicht etwa?
»Nein, noch nicht.«
Einer sagte: Noch nicht? Dieser Hinweis berührt das ganze grässliche Thema von… Körperöffnungen.
Einer sagte: Wie hast du gelernt, mit den Schultern zu zucken?
»Der Körper weiß es von ganz allein«, antwortete Ihre Ladyschaft.
»Daran haben wir nie gedacht. Die meisten Dinge erledigt der Körper
von ganz allein. Aufrecht zu stehen, kostet überhaupt keine Mühe. Und die ganze Sache wird immer leichter.«
Der Körper verlagerte das Gewicht ein wenig und schlug die Beine
übereinander. Es ist verblüffend, dachte Lady LeJean. Der Körper
verhält sich auf diese Weise, weil er es bequem haben möchte. Ich
brauche überhaupt nicht daran zu denken. So etwas hätten wir nicht für möglich gehalten.
Einer sagte: Es wird Fragen geben.
Die Revisoren hassten Fragen. Sie hassten sie fast ebenso sehr wie Entscheidungen, und Entscheidungen hassten sie fast mit der gleichen Intensität wie das Konzept individueller Persönlichkeit. Aber am meisten hassten sie Dinge, die dem Zufall überlassen blieben.
»Es ist alles in Ordnung, glaubt mir«, sagte Lady LeJean. »Wir
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verstoßen nicht gegen die Regeln. Die Zeit hält an – weiter geschieht nichts. Und anschließend ist alles ordentlich. Die Dinge leben, bewegen sich aber nicht mehr. Ordnung.«
Einer sagte: Und dann können wir die Registratur vervollständigen.
»Ja«, bestätigte Lady LeJean. »Und er möchte die Uhr bauen. Das ist das Seltsame daran. Er denkt kaum über die Konsequenzen nach.«
Einer sagte: Hervorragend.
Es folgte eine jener Pausen, die entstehen, wenn niemand zu sprechen bereit ist. Und dann:
Einer sagte: Sag uns… Wie ist es?
»Wie ist was?«
Einer sagte: Verrückt zu sein. Ein Mensch zu sein.
»Es ist… sonderbar. Alles erscheint schlecht organisiert. Das Denken findet auf mehreren Ebenen gleichzeitig statt. Es gibt… Dinge, für die wir kein Wort haben. Zum Beispiel geht eine Art… anziehende Kraft
von der Vorstellung des Essens aus.«
Einer sagte: Eine anziehende Kraft? So wie Gravitation?
»J-ja. Man fühlt sich zu Nahrungsmitteln hingezogen.«
Einer sagte: Zu Nahrungsmitteln in großen Mengen?
»Auch in kleinen Mengen.«
Einer sagte: Aber Essen ist nur eine Funktion. Wie kann man sich dazu…
hingezogen fühlen, eine Funktion zu erfüllen? Es sollte genügen zu wissen, dass sie für das Überleben notwendig ist.
»Darauf kann ich keine Antwort geben«, sagte Lady LeJean.
Ein Revisor sagte: Du beharrst darauf, ein Personalpronomen zu verwenden.
Und ein anderer fügte hinzu: Und du bist nicht gestorben! Ein Individuum zu sein bedeutet zu leben, und zu leben bedeutet zu sterben!
»Ja. Ich weiß. Aber es ist wesentlich für Menschen, das
Personalpronomen zu verwenden. Es teilt das Universum in die
Dunkelheit hinter den Augen, wo die leise Stimme wohnt, und in alles andere. Es ist ein… schreckliches Gefühl. So als würde man ständig… in Frage gestellt.«
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Einer fragte: Was hat es mit der leisen Stimme auf sich?
»Manchmal ähnelt das Denken dem Gespräch mit einer anderen
Person, aber diese andere Person ist man selbst.«
Lady LeJean spürte, dass dieser Hinweis die Revisoren beunruhigte.
»Ich möchte nicht länger als unbedingt notwendig auf diese Weise
existieren«, fügte sie hinzu. Und begriff, dass sie gelogen hatte.
Einer sagte: Das können wir dir nicht verdenken.
Lady LeJean nickte.
Die Revisoren konnten ins menschliche Bewusstsein blicken. Sie sahen das Durcheinander der Gedanken, wussten sie aber nicht zu deuten. Sie sahen die zwischen den Synapsen hin und her fließende
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