Der Zeitdieb
Männer. Und dann erklang ein
langsames, rhythmisches Pochen.
Der Yeti klatschte in die Hände. Es musste ein langsamer Rhythmus
sein, denn die Arme des Wesens waren ziemlich lang. Aber wenn sich die Hände trafen, hatten sie einen weiten Weg zurückgelegt und freuten sich über das Wiedersehen. Das Pochen hallte in den Bergen wider.
Lu-Tze bückte sich und hob das Kinn des Anführers.
»Wenn dir dieser Nachmittag gefallen hat, so berichte deinen Freunden davon«, sagte er. »Teil ihnen mit, sie sollen an Regel Eins denken.«
Er ließ das Kinn los, ging zum Yeti und verbeugte sich.
»Soll ich dich befreien, werter Herr, oder willst du das selbst
erledigen?«, fragte er.
Der Yeti erhob sich, blickte auf die primitive, eiserne Falle an seinem Bein und konzentrierte sich für einen Moment.
Am Ende des Moments stand der Yeti einige Schritte von der Falle entfernt, die noch immer gespannt und halb im Laub verborgen war.
»Gut«, lobte Lu-Tze. »Methodisch und glatt. Bist du zum Tiefland
unterwegs?«
Der Yeti musste sich weit hinabbeugen, um sein Gesicht auf eine Höhe mit dem von Lu-Tze zu bringen.
»Jaa«, antwortete er.
»Was soll mit diesen Leuten geschehen?«
Der Yeti sah zu den Jägern, die sich noch immer nicht zu rühren
wagten.
»Es baald duunkel wird«, sagte er. »Keine Führer mehr daa.«
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»Sie haben Fackeln«, sagte Lu-Tze.
»Ha. Ha«, sagte der Yeti, und er sagte es wirklich, anstatt zu lachen.
»Daas ist gut. Fackelschein in der Naacht man gut sehen kaan.«
»Ha! Ja. Kannst du uns mitnehmen? Es geht um eine wichtige
Angelegenheit.«
»Dich und deen saausenden Jungen doort drüben?«
Ein Fleck aus grauer Luft am Rand der Lichtung wurde zu Lobsang,
der außer Atem war. Er ließ den zerbrochenen Zweig fallen, den er in der einen Hand gehalten hatte.
»Der Junge heißt Lobsang«, sagte Lu-Tze. »Ich unterrichte ihn.«
»Vielleicht du schoon baald keine Dinge mehr findest, die duu ihm
beibringen kaanst«, erwiderte der Yeti. »Ha. Ha.«
»Kehrer, was hattest du…«, begann Lobsang und eilte herbei.
Lu-Tze hob den Zeigefinger vor die Lippen. »Nicht in Anwesenheit
unserer gefallenen Freunde«, sagte er. »Ich möchte gewährleisten, dass man der Regel Eins in dieser Gegend von jetzt an mehr Beachtung
schenkt.«
»Aber ich musste die ganze…«
»Wir gehen jetzt«, sagte Lu-Tze und bedeutete dem Jungen mit einem
Wink zu schweigen. »Ich schätze, wir können ein Nickerchen machen,
während unser Freund hier uns trägt.«
Lobsang starrte an dem Yeti empor, blickte zu Lu-Tze und sah dann
erneut zum Yeti. Er war groß. In gewisser Weise ähnelte er den Trollen in der Stadt, aber im Vergleich mit ihnen wirkte er wie ausgewalzt. Die Gestalt ragte mehr als drei Meter weit auf und schien zum größten Teil aus dürren Beinen und Armen zu bestehen. Der Körper war eine Kugel
aus Pelz, und die Füße erwiesen sich tatsächlich als riesig.
»Wenn er sich jederzeit aus der Falle befreien konnte…«, begann
Lobsang.
»Du bist der Schüler, klar?«, erwiderte Lu-Tze. »Und ich bin der Lehrer.
Ich glaube, das habe ich irgendwo aufgeschrieben…«
»Du hast mir versprochen, auf das Ich-weiß-alles zu verzichten…«
»Denk an Regel Eins! Oh, und nimm eins der Schwerter. Wir brauchen
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es bald. So, es kann losgehen… «
Der Yeti hob sie vorsichtig hoch, legte sich Lehrer und Schüler in
jeweils eine Armbeuge und stapfte durch den Schnee.
»Gemütlich, nicht wahr?«, sagte Lu-Tze nach einer Weile. »An einigen Stellen scheint die Wolle aus Stein gesponnen zu sein, aber im Großen und Ganzen ist es recht komfortabel.«
Es kam keine Antwort aus der anderen Armbeuge.
»Ich habe einige Zeit mit Yetis verbracht«, fuhr Lu-Tze fort.
»Erstaunliche Leute. Haben mir das eine oder andere beigebracht.
Nützliche Dinge. Denn steht nicht geschrieben ›Wir leben und lernen‹?«
Es war weiterhin still – eine verdrießliche, absichtliche Stille.
»Ein Junge in deinem Alter sollte sich glücklich schätzen, von einem echten Yeti getragen zu werden. Viele Leute im Tal haben nie einen
gesehen. Inzwischen halten sie sich von den Siedlungen fern. Seit das Gerücht über ihre Füße entstanden ist.«
Lu-Tze gewann den Eindruck, dass er einen Dialog für eine Person
führte.
»Möchtest du irgendetwas sagen?«, fragte er.
»Ja, ich möchte tatsächlich etwas sagen«, erwiderte Lobsang. »Du hast mich die ganze Arbeit erledigen lassen! Du wolltest überhaupt nichts
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