Der Zeitdieb
etwas konnte nur wegen der besonderen Denkweise der
Omnianer unbemerkt bleiben, deren Religion Vergangenheit und
Zukunft mit der Gegenwart vermischte.
Und dann das Koomtal. Jeder wusste, dass dort eine Schlacht
stattgefunden hatte, zwischen Zwergen, Trollen und Söldnern auf beiden Seiten. Aber wie oft? Historiker meinten, das Tal befände sich genau an der richtigen Stelle in umstrittenem Gebiet, um zum Schauplatz für
Konfrontationen aller Art zu werden. Aber ebenso leicht konnte man
glauben – zumindest dann, wenn man Tod als Großvater hatte –, dass
ein passender Flicken mehrmals mit dem Gefüge der Zeit verschweißt
worden war, so dass verschiedene Generationen immer wieder die
gleiche dumme Katastrophe erleben mussten, wobei sie »Erinnert euch
ans Koomtal!«, riefen.*
Überall gab es Anomalien.
Und niemand bemerkte sie.
Das musste man den Menschen lassen. Sie verfügten über eine der
stärksten Mächte im Universum. Selbst Susannes Großvater kam
gelegentlich darauf zu sprechen. Keine andere Spezies irgendwo auf der Welt hatte die Langeweile erfunden. Vielleicht war es Langeweile und nicht Intelligenz, die die Menschen dazu veranlasst hatte, auf der Leiter
* Jede Gesellschaft braucht einen solchen Ruf, doch nur in seltenen Fällen artikuliert man die vollständige, ungeschminkte Version, die lautet: »Erinnert euch an die Gräueltaten, die beim letzten Mal an uns begangen wurden und die Gräueltaten rechtfertigen, die wir heute begehen werden. Und vorwärts! Hurra!«
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der Evolution nach oben zu klettern. Auch Trolle und Zwerge verfügten über die seltsame Fähigkeit, das Universum zu betrachten und zu
denken: »Oh, genau wie gestern, wie langweilig. Was passiert wohl, wenn ich diesen Stein gegen den Kopf dort schlage?«
Damit einher ging eine entgegengesetzte Kraft, die Dinge normal
machte. Die Welt veränderte sich grundlegend, und einige Tage später hielten Menschen alles für normal. Erstaunlicherweise waren sie dazu fähig, nicht passende Dinge einfach auszuklammern und zu vergessen.
Sie erfanden kleine Geschichten, um das Unerklärliche zu erklären, um alles normal werden zu lassen.
Historiker verstanden sich besonders gut darauf. Wenn es plötzlich
danach aussah, als sei im vierzehnten Jahrhundert kaum etwas
geschehen, entwickelten sie zwanzig verschiedene Theorien. Nicht eine einzige ging davon aus, dass ein großer Teil der Zeit weggeschnitten und ins neunzehnte Jahrhundert genäht worden war, wo der Große
Zusammenbruch nicht genug zusammenhängende Zeit zurückgelassen
hatte, damit alle notwendigen Dinge geschehen konnten. Immerhin
dauert es nur eine Woche, um das Kummet zu erfinden.
Die Geschichtsmönche hatten gute Arbeit geleistet, aber ihr größter
Helfer war die menschliche Fähigkeit des narrativen Denkens. Es fiel ihnen nicht weiter schwer, den Erfordernissen gerecht zu werden. Sie sagten Dinge wie »Schon Donnerstag? Was ist mit der Woche passiert?«, und »Die Zeit scheint in diesen Tagen viel schneller zu vergehen« und
»Es scheint erst gestern gewesen zu sein«…
Doch das eine oder andere blieb.
Mit großer Sorgfalt hatten die Mönche die Zeit entfernt, als die
gläserne Uhr schlug. Sie war aus der Geschichte herausoperiert worden.
Fast…
Erneut griff Susanne nach den Grimmigen Märchen. Als Kind hatte sie keine derartigen Bücher von ihren Eltern bekommen. Sie waren bestrebt gewesen, ihre Tochter normal aufwachsen zu lassen, in der Überzeugung, dass es für Menschen nicht gut sein konnte, dem Tod nahe zu sein. Bei der Erziehung gaben sie den Fakten den Vorrang vor der Fantasie. Und als Susanne groß wurde, stellte sie fest: Die Fantasie bestand nicht etwa aus der Zahnfee, dem Schneevater und Schwarzen Männern, denn das
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waren Fakten. Die große Fantasie betraf eine Welt, in der sich mit Butter bestrichenes Brot nicht darum scherte, mit welcher Seite es zu Boden fiel, eine Welt, in der Logik vernünftig war und in der Dinge
ungeschehen gemacht werden konnten.
Die Gläserne Uhr war zu groß und bedeutsam gewesen, um sie zu
verstecken. Lecks hatten sich gebildet in den dunklen, verborgenen
Labyrinthen des menschlichen Geistes, und daraus entstanden Legenden.
Die Leute waren bestrebt gewesen, sie in ein schönes Gewand zu kleiden und mit Zauberschwertern auszustatten, aber ihre wahre Natur lauerte wie eine Harke im zu hohen Gras, bereit dazu, sich von einem
unvorsichtigen Fuß aufrichten zu lassen.
Jetzt traf etwas darauf, und
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