Der Zeitdieb
fragte Lobsang.
Der Yeti ging nicht in dem Sinn, sondern sprang vielmehr von einem
großen Fuß auf den anderen. Die langen Beine federten so gut, dass die einzelnen Landungen kaum eine Erschütterung verursachten. Es war
eine recht bequeme Art des Reisens.
»Ich schätze, unsere Geschwindigkeit beträgt etwa dreißig Meilen pro Stunde normaler Uhrzeit«, sagte Lu-Tze. »Schlaf jetzt. Morgen früh sind wir über Kupferkopf, und von dort geht’s nur noch bergab.«
»Zu sterben und dann ins Leben zurückzukehren…«, murmelte
Lobsang.
»Eigentlich geht es darum, das Sterben zu vermeiden«, erwiderte Lu-Tze.
»Ich habe mich ein wenig damit befasst, aber… Nun, wenn man nicht
mit solchen Fähigkeiten geboren ist, muss man die ganze Sache lernen, und wer garantiert, dass man es beim ersten Versuch richtig
hinbekommt?«
Tick
Susanne erkannte Lancre aus der Luft: eine kleine Mulde mit Wald und Feldern, wie ein Nest an die Flanke der Spitzhornberge geschmiegt. Sie fand auch das Haus: keins der typischen, mit korkenzieherartigen
Schornsteinen ausgestatteten Hexenhäuser, wie sie in Grimmige Märchen und ähnlichen Büchern beschrieben wurden, sondern ein neues Gebäude
mit makellosem Reetdach und einem sehr gepflegten Garten.
An dem kleinen Teich stand mehr Zierrat – Gnome, Pilze, rosarote
Häschen und Rehe mit großen Augen –, als ein einigermaßen
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vernünftiger Gärtner zulassen sollte. Susanne bemerkte einen bunten
Gnom, der angelte… Nein, er hielt keine Rute in der Hand, oder? Eine nette alte Dame stellte sich doch nicht so etwas in den Garten…
Susanne war klug genug, zur Hintertür zu gehen, denn Hexen waren
allergisch gegen Vordereingänge. Eine kleine, dicke Frau mit rosaroten Wangen öffnete. Ihre rosinenartigen Augen teilten der Besucherin mit: Ja, es ist mein Gnom, und sei froh, dass er nur in den Teich pinkelt.
»Frau Ogg? Die Hebamme?«
Nach einer kurzen Pause sagte Frau Ogg: »Ja, die bin ich.«
»Du kennst mich nicht, aber…«, begann Susanne und bemerkte dann,
dass Frau Ogg an ihr vorbei zu Binky sah, der am Tor stand. Immerhin war sie eine Hexe.
»Vielleicht kenne ich dich doch«, sagte Frau Ogg. »Andererseits…
Wenn du das Pferd dort gestohlen hast, bist du in großen Schwierigkeiten.«
»Ich habe es mir ausgeliehen. Es gehört… meinem Großvater.«
Wieder folgte eine Pause. Susanne empfand den Blick der kleinen,
freundlichen Augen als beunruhigend, denn er bohrte sich tief in ihr Selbst.
»Komm besser herein«, sagte Frau Ogg.
Innen war das Haus ebenso sauber und ordentlich wie außen. Dinge
glänzten, und es gab ziemlich viele von ihnen. Der Ort kam einem
Schrein für kitschige, enthusiastisch bemalte Zierobjekte aus Porzellan gleich. Sie standen auf allen ebenen Flächen. Den restlichen Platz
beanspruchten Bilder, die in Rahmen steckten. Zwei mitgenommen
wirkende Frauen putzten und wischten Staub.
»Ich habe Besuch«, verkündete Frau Ogg streng, und die beiden
Frauen eilten mit solchem Eifer fort, dass man von einer Flucht
sprechen konnte.
»Meine Schwiegertöchter«, erklärte Frau Ogg und nahm in einem
Sessel Platz, der sich im Lauf der Zeit verformt und ihrer Gestalt
angepasst hatte. »Sie helfen gern einer armen alten Frau, die ganz allein auf der Welt ist.«
Susanne betrachtete die Bilder. Wenn sie alle Mitglieder der Familie zeigten, so war Frau Ogg das Oberhaupt einer Armee.
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»Setz dich, Mädchen«, sagte Frau Ogg, und es schien ihr überhaupt
nichts auszumachen, dass sie bei einer Lüge ertappt worden war. »Der Tee ist gleich fertig. Was hast du auf dem Herzen?«
»Ich möchte etwas wissen.«
»Das möchten viele Leute«, erwiderte Frau Ogg. »Und oft bleibt ihr
Wunsch unerfüllt.«
»Ich möchte etwas über eine… Geburt erfahren«, fügte Susanne
beharrlich hinzu.
»Ach? Nun, ich habe Hunderte von Entbindungen erledigt. Vielleicht
sogar Tausende.«
»Ich schätze, diese war schwierig.«
»Das ist oft der Fall«, sagte Frau Ogg.
»An diese spezielle Geburt erinnerst du dich bestimmt. Ich weiß nicht, wie es begann, aber ich vermute, ein Fremder klopfte an deine Tür.«
»Oh?« Frau Oggs Gesicht verwandelte sich in eine Mauer, und der
freundliche Glanz verschwand aus ihren dunklen Augen.
»Du hilfst mir nicht, Frau Ogg.«
»Stimmt, ich helfe dir nicht«, bestätigte die Hexe. »Ich glaube, ich weiß über dich Bescheid, aber es ist mir gleich, wer du bist. Von mir aus kannst du ruhig gehen und deinen
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