Der Zeitenherrscher
ihm, als würde er verbogen und verdreht werden wie ein Handtuch, das ausgewrungen wurde.
Doch kurz darauf verlor sich das Gefühl, und Simons Körper entspannte sich. Er öffnete die Augen und konntebeobachten, wie sich innerhalb von Sekunden die Gewitterwolken verzogen und das Meer sich beruhigte. Das Schaukeln hörte auf, und kurz darauf lag der Seelensammler ruhig auf der Wasseroberfläche, gerade so, als sei in den vergangenen Augenblicken nichts geschehen.
Die Zeitmaschine kam langsam zum Stillstand. Sie waren angekommen.
Simon ließ das Tau los, das ihm als Halt gedient hatte, und blickte sich um. Die anderen kamen ebenfalls allmählich zu sich.
Moon versuchte, sich aus einem Gewirr von Tauen und Seilen zu befreien. Er hatte es wohl nicht mehr geschafft, sich Halt zu suchen, und war während der Zeitreise in die Ecke geschleudert worden, in der sie ihre Taue aufbewahrten.
Simon lief zu ihm und half ihm unter den Stricken hervor. „Was war das?“, fragte er, immer noch völlig fassungslos. „Wie konnte das Schiff selbstständig eine Zeitreise antreten, ohne den Schattengreifer an Bord oder ohne eure Hände in den Mulden der Zeitmaschine?“
Moon drückte die Taue zur Seite, die ihn gerade noch behindert hatten, und setzte sich auf.
„Du bist lange nicht hier gewesen“, sagte der Indianer. „Es hat sich einiges geändert.“
„Geändert?“ Simon gefiel diese Antwort überhaupt nicht.
„Er ist stärker geworden. Mächtiger.“
„Du meinst, diese Zeitreise gerade – die hat er gesteuert? Aus seinem Reich heraus?“
„In der Zeit, in der du nicht hier warst, hat er uns immer wieder seine Macht gezeigt. Mal lässt er Feuer regnen, mal spielt das Meer verrückt.“
„Aber …“
„Er will uns Angst machen. Er will uns warnen. Gerade jetzt, wo du wieder an Bord bist, befürchtet er wohl, wir könnten wieder versuchen, einen von uns zu retten. Deshalb diese Zeitreise. Versteh sie als Warnung.“
Simon zeigte über die Bordwand. „Wohin hat er uns wohl geführt? An welchen Ort? In welche Zeit?“
Moon machte ein ratloses Gesicht.
Simon erhob sich und rannte an die Reling. An der Steuerbordseite sah er nur das Meer. Bis zum Horizont nichts als Wellen. Simon rannte zur Backbordseite, doch auch hier waren keine Insel, kein Strand, keine Küste in Sicht. Nur Wasser und der blaue endlose Horizont.
Simons Blick wanderte die Schiffswand entlang nach unten, zu seinem Ruderboot, das noch immer an der Strickleiter des Schiffes festgemacht war. Doch etwas ging mit dem Boot vor sich. Simon sah genauer hin. Durch die Paddel der Ruder zogen sich tiefe Risse, und das Holz des Bootes begann sich zu verdunkeln. Das Boot alterte! Vor Simons Augen wurden in nur wenigen Augenblicken die Wände morsch. Wasser sickerte in das Boot hinein, und die Ruder verformten sich so, dass sie aus den Halterungen glitten. Der Sitz des Bootes brach ab. Das Holz wurde weich und zog sich in sich zusammen. Das Boot löste sich auf. Was sonst ein Prozess von vielen Jahren war, verlief vor Simons Blicken innerhalb von Sekunden. Bis das Boot sich schließlich völlig aufgelöst hatte und Simon als traurigen Rest des Ganzen nur noch ein verwittertes Stückchen seines Knotens an der Strickleiter des Seelensammlers ausmachen konnte.
Simon verstand: Es gab nun kein Zurück mehr für ihn.
Erschöpft ließ er sich fallen.
Auch wenn es ihn
unendliche Kraft gekostet hatte, er konnte mit sich zufrieden
sein.
Der Junge würde verstanden haben. Er würde eingesehen haben,
dass die Macht, über die der Magier verfügte, inzwischen beinahe
unendlich groß war.
Beinahe alles war ihm möglich.
Der Junge mochte
sich vorbereitet haben.
Doch auch er, der Magier, hatte sich
vorbereitet.
Er hatte an sich gearbeitet.
An sich und an seiner
magischen Kunst.
Das musste der Junge verstanden haben.
Es würde ihn
ängstigen.
Gewiss würde er es nun nicht mehr wagen, die Pläne zu
durchkreuzen.
Vielleicht würde er endlich verstehen.
Seinen Platz
darin.
Der Magier atmete erleichtert aus und überließ seinen Geist
seiner Erschöpfung.
Er wird verstanden haben. Das war der letzte
Gedanke, bevor
der Schlaf sich über ihn legte.
Simons hatte keine Zeit, seinem Boot nachzutrauern. Er wollte jetzt nicht in Grübeleien verfallen. Seine ganze Sorge galt erst einmal seinen Freunden. Er fühlte sich verantwortlich. Er war der Einzige auf dem Schiff, der einen Überblick über alle Epochen hatte. Und deshalb hatten sie auch Simon zu ihrem Anführer
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