Der Zeitenherrscher
Kreischen der Vögel hörte Simon immer wieder die Schreie seiner Freunde.
Sie waren verloren. Selbst wenn sie sich gegen diese Attacke hätten wehren können, es warteten ja noch immer weit mehr Vögel auf die Jugendlichen.
Simon schloss die Augen und machte sich auf das Schlimmste gefasst, als plötzlich …
Das Gekreisch endete so abrupt, dass es den Freunden noch einen Moment in den Ohren nachklang. Mit einem Mal herrschte vollständige Ruhe. Wie auf ein Zeichen hin hatten die Krähen blitzartig von den Jugendlichen abgelassen. Sie erhoben sich stumm in die Höhe, entfernten sich von den Zeitenkriegern und ließen sich hinter den wartenden Vögeln am Boden nieder.
Simons erster Blick galt seinen Freunden. Sie lagen, ebenso wie er, am Boden und rappelten sich langsam auf. Alle vier sahen zum Fürchten aus. Dünne Blutrinnsale liefen ihnen über Arme und Beine. Die Kleidung und die Decken waren zerrissen, und ihre Haare hingen wirr von ihren Köpfen, was gerade bei Nin-Si, die stets auf ihre kunstvoll hochgesteckte Frisur Wert legte, ulkig ausgesehen hätte, wäre die Situation eine andere gewesen. Auch jetzt griff sie sich schnell in ihre langen Haare und bemühte sich mit hastigen Bewegungen, die herabhängenden Strähnen wieder in Form zu bringen, denn eine gute äußere Erscheinung war in ihrer Kultur von größtem Wert.
Simon blickte sich verwundert zu den Krähen um. Was war die Ursache für das plötzliche Ende der Attacke?
Die Vögel hatten ihre Augen nicht mehr auf die Jugendlichen gerichtet. Sie blickten an den Freunden vorbei.
Ruckartig wandte sich auch Simon um, und seine Augen weiteten sich vor Erstaunen. Sie war es, auf die alle Augen gerichtet waren. Dort, wo die Krähen die Gasse offen gelassen hatten, um die Jugendlichen zum Rückzug zu zwingen, saß völlig allein, auf dem toten Ast eines zerschlagenen Baumes, die kleine Krähe des Seelensammlers. Ihre winzigen Augen funkelten ihre unzähligen Artgenossen an. Ihr Blick schweifte über die gesamte Ebene und erfasste wohl jeden einzelnen Vogel, der sich dort aufhielt.
Die anderen Krähen wussten die Situation wohl nicht einzuschätzen. Unsicherheit machte sich unter ihnen breit. Sie traten von einem Fuß auf den anderen, ruckten hektisch mit den Köpfen und ließen die kleine Krähe nicht für eine Sekunde aus den Augen.
Simon war beeindruckt. Wie hatte es dieses kleine Geschöpf, das sich sonst am liebsten in seinem Mastkorb verkroch, geschafft, eine Schar unzähliger aufgebrachter Krähen in die Schranken zu weisen?
Die Unruhe unter den anderen Vögeln wuchs allmählich weiter an.
Schließlich erhob sich die oberste Krähe von ihrem Platz und flog vor den Augen ihrer Artgenossen und der Zeitenkrieger zu der kleinen Krähe hin. Sie ließ sich auf dem toten Ast nieder, öffnete ihren krummen Schnabel und schrie laut auf.
Die kleine Krähe zuckte kurz zusammen, dann wippte sie mit dem Kopf und krächzte frech zurück.
Die große hatte damit nicht gerechnet. Sie hüpfte einen Schritt zurück, begutachtete die kleine Krähe noch einmal, dann stieß sie mit dem Kopf zu und pickte die Kleine in die Seite.
Diese schrie nun ebenso laut auf, doch anscheinend war sie darauf gefasst gewesen, denn schon im nächsten Moment pickte sie zurück. Ein Kampf entstand zwischen den beiden Krähen. Die große hieb immer und immer wieder auf sie ein, doch die Kleine war flinker und geschickter. Es gelang ihr jedes Mal, knapp auszuweichen und in ihrer Bewegung jeden Angriff mit einem blitzschnellen Picken zu erwidern.
Irgendwann wurde es der großen Krähe zu viel. Mit einem Schrei stürzte sie sich auf den kleinen Vogel und packte ihn. Sie stürzten auf den Boden, wo sie sich ineinander verhakten und krächzend herumwirbelten.
„Wir müssen ihr helfen!“, schrie Nin-Si und sprang auf die Füße. „Sie … sie …“
Doch in diesem Moment hatte das Wirbeln ein Ende. Die große Krähe schrie so entsetzlich auf, dass alle um sie herumzusammenfuhren. Wie von Krämpfen geschüttelt bäumte sie sich auf, stieß noch einmal einen gellenden Schrei aus, dann ließ sie von der kleinen Krähe ab.
Diese erhob sich flatternd in die Lüfte.
Ächzend und schnaufend lag die große Krähe im Schnee und streckte beide Flügel von sich.
Die Kleine landete wieder auf ihrem Ast. Sie ließ den Blick noch einmal über die anderen Krähen schweifen und genoss ganz offensichtlich die überraschten Blicke, die auf ihr ruhten. Dann reckte sie sich empor, kreischte,
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