Der Zeitenherrscher
Simon erkannte den Vogel sofort. Er war groß gewachsen und hatte einen auffällig nach vorn gekrümmten Schnabel. Kein Zweifel: Dies war tatsächlich die Krähe aus dem Mastkorb des Seelensammlers. Sie war ihnen nachgeflogen, während Simon geredet hatte.
Simon stand im Schnee und fixierte mit seinen Blicken die Krähe. Und diese blickte zurück. Stumm.
Starr.
Bis sie plötzlich einen Schrei tat. Sie riss den Kopf nach oben und durchbrach krächzend die Stille des Ortes. Und wie ein tausendfaches Echo hallte es krächzend hinter den Freunden zurück. Die Zeitenkrieger fuhren erschrocken herum. Nin-Si schrie entsetzt auf. Neferti krallte sich an Simons Arm.
Krähenaugen, wohin sie auch blickten. Hinter den Freunden hatten sich unzählige Krähen versammelt. Federn und Flügel, so weit sie nur blicken konnten. Auf den Gebüschen, auf dem Boden – die Ebene schien von Krähen vollkommen bedeckt zu sein. Der Schnee war kaum noch zu erkennen. Die Freunde erblickten nur noch spitze Schnäbel, schwarze Federn und starrende Augen.
Das Schreien und Krächzen der Vögel hallte über die gesamte Ebene. Nin-Si hielt sich die Ohren zu. „Was wollen die von uns?“
Die vier rückten dichter zusammen. Doch im gleichen Moment ging ein Ruck durch die Vogelmassen am Boden, und siebewegten sich nach vorn. Der Lärm ihres Geschreis verstärkte sich und hallte schmerzhaft in den Ohren der Freunde.
Bis sich eine raue Krähenstimme mit einem lauten Aufschrei durchsetzte und die Vögel augenblicklich verstummen ließ.
Die Krähe mit dem krummen Schnabel hatte die anderen zum Schweigen gebracht, und eine unheimliche Stille breitete sich aus. Die Krähe saß, als scheinbar oberste der Krähen, noch immer auf ihrem Ast, den Blick fest auf die Freunde gerichtet. Dann plötzlich ruckte sie mit dem Kopf, tat einen erneuten Schrei, und in diesem Moment kam Bewegung in die Vogelmassen. Die Krähen, die sich hinter den Freunden postiert hatten, erhoben sich mit lautem Flügelschlagen. Sie flogen um die Köpfe der vier und ließen sich direkt vor ihnen bei der obersten Krähe nieder. Die Vögel reihten sich vor ihnen zu einer dunklen, bedrohlichen Wand auf und versperrten so den Jugendlichen den Weg. Die Freunde waren wie eingekesselt. Die Krähen hatten sich vor ihnen und zu ihren Seiten versammelt.
Simon drehte den Kopf. Einzig der Weg zurück war frei. Die Krähen hatten eine regelrechte Sackgasse gebildet.
Die Botschaft war klar und eindeutig: Kehrt um!
Wie ruhig es hier war ohne die anderen. Einzig der Wind war zu hören, wie er sich pfeifend in den Ritzen und Ecken des Schiffes verfing oder wie er in die gerafften Segel fuhr und die zusammengeknoteten Stoffbahnen rumpelnd aufbäumen ließ.
Caspar stand grübelnd auf dem Schiffsdeck. Zum ersten Mal war er allein an Bord, und diese fast greifbare Ruhe bedrückte ihn. Normalerweise wären die anderen jetzt ebenfalls an Bord. Sie würden miteinander sprechen. Vielleicht würden sie auch miteinander schweigen. Egal. Es wäre zumindest jemand hier.
Noch nie zuvor hatte sich Caspar so einsam gefühlt. So fehl am Platz.
Doch das Gefühl des Alleinseins wich schnell einer unbändigen Wut. Einer Wut, wie er sie sehr gut kannte.
Sollten die anderen doch zum Teufel gehen und ihn hier zurücklassen! Was kümmerte es ihn? Keiner von den anderen hatte ihn bisher verstanden. Sie verhielten sich zwar, als ob sie zueinander gehörten, doch in Wahrheit dachte jeder nur an sich! Ähnlich wie seine Freunde in dem Kinderkreuzzug. Stets war davon geredet worden, dass alle zusammenhalten würden. Dass sie Jerusalem befreien und gemeinsam eine neue Heimat aufbauen würden. Doch was war geschehen? Kaum hatte ihr Anführer am Meer versagt, ließen sie ihn stehen und wandten sich ab. Das Meer hatte sich nicht geteilt, aber ein tiefer Riss war durch die Gruppe der Mädchen und Jungen gegangen. Und mit einem Mal waren die Schwüre und Versprechen der ganzen Wochen und Monate vergessen gewesen. Caspars sämtliche Freunde hatten den Rückweg angetreten. All sein Bitten, all sein Flehen, hatten nichts genützt. So hatte sich Caspar einer anderen Gruppe angeschlossen und war mit ihnen weitergezogen, ihrem schrecklichen Schicksal entgegen.
Nun saß er genauso hilflos auf diesem Boot fest wie einst am Strand. Wieder hatte man ihn zurückgelassen. Wieder war die Gruppe ohne ihn losgezogen.
Ach was! Er brauchte sie alle nicht. Er konnte auf sich selbst achten. Er war Caspar. Der geschickte Caspar. Der
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