Der Zeitenherrscher
Feuer. Die Kraft, die aus diesem Momenthervorgegangen ist, ging in mich über. Das erklärt meine Fähigkeiten: Ich bin ein Mensch des Schattens mit der Kraft des Feuers. Doch es benötigte noch einige Zeit, bis ich das begriffen hatte. Bis alle das begriffen hatten. Ich lebte zunächst unentdeckt und unwissend mit meinen Kräften.“
Simon wollte etwas erwidern, als sein Blick auf etwas fiel, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ: Noch immer schaukelte die Mutter das Kleine in ihren Armen. Sie summte ihm etwas vor und streichelte seine Füße. Doch inzwischen bewegte sich der Mond auf seiner Umlaufbahn weiter und gab die Sonne wieder frei. Der Schatten der Mutter mit ihrem Kleinen zeichnete sich wieder auf dem Strand ab. Erst glaubte Simon, sich zu täuschen, doch dann war er sicher, dass er es wirklich beobachtet hatte: Während die Mutter die Füße des Babys streichelte, zuckte der Kleine immer wieder zusammen. Und im Schatten auf dem Boden sah Simon, wie das Baby immer und immer wieder die Hand seiner Mutter trat – und wie dabei der Schatten ihrer Hand mit jedem einzelnen Tritt zur Seite geschleudert wurde.
Doch die Frau selbst wurde von den Füßen gar nicht berührt. Ihre Hand ruhte weiter auf ihrem Kind.
Es war ein bizarres Bild. Mensch und Schatten schienen wie voneinander getrennt.
„Der Schatten ist meine wahre Welt“, ließ der Magier sich vernehmen. „Doch komm. Hier hast du genug gesehen. Ich möchte dir noch weitere Dinge zeigen.“
Die Farben begannen, wieder ineinander zu verlaufen, und Simon war enttäuscht, dass er den Strand verlassen musste. Zu gern hätte er die Mutter und das Kind noch etwas beobachtet. Doch gleichzeitig war er gespannt, was der Schattengreifer ihm noch zu zeigen hatte.„Was ist mit den beiden?“ Neferti trat aus der Gruppe der Zeitenkrieger, die staunend um Simon und den Schattengreifer gestanden hatten. Wie ein lebensechtes Gemälde standen die beiden sich unbeweglich gegenüber. Der Schattengreifer hatte noch immer seine Finger an den Schläfen des Jungen, und Simon stand mit geschlossenen Augen vor ihm.
„Beinahe wie zwei Stein-Skulpturen“, sagte Neferti. „Man sieht nicht einmal, dass sie atmen.“
„Ganz ähnlich wie am Wounded Knee “, sagte Nin-Si und fügte schnell an: „Und dann auch wieder nicht. Man spürt, dass irgendetwas in den beiden vorgeht.“
„Simon steht in seinem Bann“, vermutete Salomon. „Der Schattengreifer ist möglicherweise in Simons Geist eingedrungen. So, wie er es mit uns gemacht hat, bevor er uns auf das Schiff brachte.“
„Aber was macht er jetzt mit Simon?“ Aus Nin-Sis Stimme klang echte Sorge um Simon heraus. „So etwas hat er noch nie getan. Mit keinem von uns.“
„Ich weiß es auch nicht“, antwortete Salomon. Er ging langsam um die beiden herum. „Aber dass da etwas vor sich geht, ist eindeutig.“
Neferti zögerte kurz, dann fragte sie: „Was meint ihr, sollen wir eingreifen?“
Jetzt löste auch Caspar sich von seinem bisherigen Platz und kam näher heran. „Wie meinst du das?“
„Ich möchte nicht, dass der Schattengreifer Simon wehtut“, sagte Neferti. „Dass Simon so ruhig hier steht, muss nicht bedeuten, dass es ihm gut geht. Wer weiß, was gerade in ihm passiert.“ Sacht streckte sie eine Hand aus, um den reglosen Simon zu berühren.
„Vorsicht!“, mahnte Nin-Si. „Nicht, dass der Zauber bricht.“
Neferti zog ihre Hand zurück. „Was sollen wir denn jetzt tun?“
„Ich denke, wir sollten abwarten“, warf Caspar ein. „Lasst uns die beiden weiter beobachten und erst dann einschreiten, wenn wir den Verdacht haben, dass Simon leidet.“
„Warten?“ Neferti seufzte. „Ich hoffe, wir tun das Richtige.“ Noch einmal streckte sie ihre Hand nach Simon aus, allerdings ohne ihn zu berühren. Sie stand nahe neben ihm, und so war sie die Erste, die den Blutstropfen erblickte, der langsam aus Simons Nase rann.
Christian starrte noch immer in das leere Bootshaus. Die Gewissheit, dass er überlistet worden war, hatte ihm all seine Kraft genommen. Schmerzhaft wurde ihm bewusst, dass er die Gefahr unterschätzt hatte. Er war einer Illusion erlegen. Dem Wunsch, dass er und seine Familie nach all den Jahren in Sicherheit und in Ruhe vor dem Schattengreifer lebten.
Wie dumm war er doch gewesen. Und wie naiv. Sicherheit hatte es nie gegeben. Nicht für ihn und auch nicht für seine Familie. In keiner einzigen Sekunde. Das war ihm jetzt schmerzhaft klar geworden. Die letzten
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