Der Zeitenherrscher
bereits selbst aufgegeben. Er hatte sich mir und meinem Zauber gänzlich überlassen.“
Simon starrte weiter auf den Jungen am Feuer. Der Anblick war sonderbar. Etwas Vergleichbares hatte er noch nie gesehen. Der Junge wirkte wie entleert. So, als sei alle Kraft, alles Leben, aus ihm herausgefahren.
Gleichzeitig machte der frühere Schattengreifer einen gestärkten Eindruck. Schließlich geschah noch etwas Seltsames. Erst dachte Simon, das Licht des flackernden Feuers spiele ihm einen Streich. Dann jedoch wurde es mehr und mehr offensichtlich: Der Schatten des verzauberten Jungen verblasste.
„Ich hatte es ebenfalls sofort bemerkt“, vernahm Simon wieder die Stimme des Schattengreifers in seinem Kopf. „Bloß konnte ich damals noch nicht einschätzen, was das bedeutete. Aber ich wollte wissen, wohin das Ganze führen könnte. Und so sprach ich weiter auf den Jungen ein. Weiter und weiter, bis …“
Simon beobachtete, wie der Junge schwankte und dann vollends zur Seite fiel. Im gleichen Moment erlosch sein Schatten.
Der junge Schattengreifer sah überrascht und voller Sorge auf den Jungen, der vor ihm im Sand lag. Er sprang von seinem Platz auf und wollte ihm zu Hilfe eilen, doch da fiel sein Blick auf etwas in seiner Hand: Der Schatten des verängstigten Jungen lag wie ein Stück Stoff in seiner Faust.
Der junge Magier schrie entsetzt auf und schleuderte reflexartig den fremden Schatten mit einem Ruck von sich. Simon konnte sehen, wie dieser schwarze Schatten in einem hohen Bogen über den Strand flog, auf einen der Bäume zu, und sich schließlich auf eine kleine Krähe legte, die sich dort zum Schlafen eingefunden hatte.
Die Krähe kreischte mit einem markerschütternden Schrei auf. Sie taumelte und verlor den Halt. Zappelnd fiel sie von dem Ast zur Erde.
Der Magier am Strand wollte schon zu ihr laufen, als die Krähe sich zu seiner Überraschung auf die Füße stellte und ihr Gefieder schüttelte, als sei nichts geschehen. Sie stieß einen kurzen Ruf aus, schüttelte noch einmal ihr Gefieder und erhob sich in die Lüfte. Dann blickte sie auf den Jungen, stieß auch in seine Richtung einen Ruf aus und kam auf ihn zugeflogen. Schließlich drehte sie einen Bogen um seinen Kopf und landete auf seiner Schulter.
Simon erkannte sie sofort: Es war die kleine Krähe.
Fassungslos starrte Christian auf die Zeichnung in seinen Händen. Nur langsam wurde ihm bewusst, was sein Fund bedeutete. Wenn Simon in seinem Zimmer eine Zeichnung des Seelensammlers liegen hatte, dann war er bereits dort gewesen. Auf dem Schiff. In der Macht des Schattengreifers.
Doch er hatte einen Weg zurück gefunden. Simon war danach wieder hier gewesen, in seinem Zuhause. Christian stutzte. Wie hatte Simon das geschafft? Er hatte seinem Sohn nichts angemerkt.
Mit einem Finger strich er über die Seiten. Sachte und sanft tat er das. Gerade so, als berühre er den Arm seines Sohnes. Oder dessen Schultern.
„Basrar: Karthago“, las Christian aus den Notizen heraus. „Stadt Ur, 2500 vor Christus: Nin-Si“, „Echnaton und Nofretete mit Neferti in Amarna“, „Wounded Knee: Moon“ und schließlich „Salomon: Pest in Europa, 14. Jahrhundert“.
Kein Zweifel: Simon war auf dem Seelensammler gewesen.
Er hatte von den Zeitreisen des Schattengreifers erfahren. Alles das war Christian schnell klar. Dennoch verstand er Simons Notizen nicht. Diese Namen, diese Jahreszahlen – gab es etwa andere Menschen auf dem Schiff? Stammten sie aus den Epochen, die Simon hier notiert hatte?
Mit einem Seufzer der Verzweiflung ließ Christian den Block aus seinen Händen gleiten. Er hatte es nicht erkannt! Er hatte seinem Sohn nicht angemerkt, dass dieser dem Schattengreifer begegnet war. Christians Feind aus der Vergangenheit.
Christian hatte damals eigentlich die Verfolgung aufnehmen wollen. Hatte einige Jahre versucht, seinen Widersacher zu finden. Doch es war ihm nicht möglich gewesen, das Versteck, das Reich des Schattengreifers aufzuspüren. Also hatte er die Suche eines Tages eingestellt und sich auf sein Leben konzentriert.
Ein Leben mit Jessica und Simon.
Doch nun? Befand sich Simon wieder dort? Auf dem Schiff?
Stand er dem Magier vielleicht gerade auf dem Seelensammler gegenüber? Und was hatte der Schattengreifer mit Simon vor?
Christian erhob sich. Einmal noch blickte er auf Simons Notizblock. Dann wurde es Zeit für ihn zu handeln. Auch wenn Simon möglicherweise schon längere Zeit unter der Magie des Schattengreifers stand,
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