Der Zeitenherrscher
jetzt zu sehen bekam, fand also in deren Umgebung statt. Simon hätte sich gern noch weiter umgesehen, doch der Schattengreifer stand hinter ihm und versperrte ihm die Sicht. Also schaute Simon wieder vor sich. Der Schattengreifer ließ ihn immer noch auf Menschen aus einer längst vergangenen Urzeit blicken. Das Bild einer Menschengruppe baute sich dort auf, die dicht beieinander im Kreis standen und aufgeregte Laute von sich gaben. Ihre Aufmerksamkeit, all ihre Blicke, richteten sich auf etwas, das sich in ihrer Mitte befand.
Simon ging langsam auf die Gruppe zu. Der Schattengreifer folgte ihm.
„Ich hoffe, solch ein Anblick erschreckt dich nicht“, hörte Simon die Stimme des Magiers in seinem Kopf, und Simon spürte, dass es für den Schattengreifer eine wahre Freude war, ihm das alles zu zeigen.
Die Aufregung der Menschen wurde stärker. Simon stellte sich an die Gruppe heran und endlich konnte er sehen, was in der Mitte des Kreises vor sich ging: Eine Frau lag auf dem Rücken und stöhnte und schrie. Eine andere Frau kniete vor ihr.
Eine Geburt!, schoss es Simon durch den Kopf. Da geht eine Geburt vor sich. Das soll ich mir ansehen?
„Wenn du wirklich alles verstehen willst“, antwortete der Schattengreifer, „dann solltest du jetzt gut achtgeben.“
Die Frau schrie auf und atmete hektisch. Simon wurde klar, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis sie das Kind zur Welt bringen würde.
Doch plötzlich ging mit der Gruppe etwas vor sich. Die Aufmerksamkeit der Menschen wurde von der Frau abgelenkt. Erst war es nur einem einzigen Mann aufgefallen, doch dann blickten immer mehr Menschen zum Himmel, bis schließlich alle erschrocken nach oben sahen.
Der Mond war dabei, sich vor die Sonne zu schieben. Es begann bereits zu dunkeln.
„Eine Sonnenfinsternis!“, sagte Simon, und der Schattengreifer antwortete: „Es ist wohl die erste Sonnenfinsternis, die jemals von Menschen beobachtet wurde. Was glaubst du, was gerade in den Menschen vorgeht?“
Simon sah wieder zu der Gruppe hin. Blanke Panik stand in den Gesichtern der Leute geschrieben. Die Menschen zeigten zum Himmel, machten wilde Gesten und brachen in Geschrei aus. Sie rempelten sich gegenseitig an, und schließlich floh der erste von ihnen vor dem, was sich dort am Himmel tat. So schnell ihn seine Beine trugen, rannte er von dem Strand fort in Richtung Wald.
Die anderen folgten seinem Beispiel. Innerhalb von Sekunden waren die Menschen nacheinander in den Wald geflüchtet, während der Mond sich weiter vor die Sonne schob und sich der Himmel mehr und mehr verdunkelte.
Einzig die gebärende Frau lag noch im Sand. Auch sie starrte völlig verängstigt zum Himmel. Doch sie war nicht mehr in der Lage, davonzulaufen. Sie schrie noch einmal auf – ob vorAngst oder Schmerzen, das konnte Simon nicht beurteilen – und dann zeigte sich der Kopf des Kindes. Noch ein Schrei, und das Baby glitt aus ihr heraus.
Der Mond hatte die Sonne beinahe bedeckt, als die erschöpfte Frau nach dem Kind griff und es liebevoll in den Arm nahm. Und genau in dem Moment der totalen Sonnenfinsternis, exakt in der Sekunde, in der alles Licht von dem Mond geschluckt wurde und sich nur noch Schatten über die Welt ergoss, tat das Baby seinen ersten Schrei.
Gleichzeitig bildete sich in Sekundenschnelle wie aus dem Nichts eine Wolke über dem Strand, und beim zweiten Schrei des Babys zuckte ein greller Blitz auf, der sich von der Wolke bis zum Rand des Waldes streckte und dort in einen der vorderen Bäume niederfuhr. Es krachte ohrenbetäubend. Der Baum wurde von Flammen ergriffen und brannte augenblicklich lichterloh. Die tanzenden Schatten, die von den Flammen hervorgerufen wurden, erstreckten sich über den Strand bis hin zu dem neugeborenen Kind. Simon hatte den Eindruck, dass die Schatten das Kleine erreichten. Die Spitzen liefen verspielt über den ganzen kleinen Körper, gerade so, als wollten sie das Neugeborene streicheln und liebkosen, und umgehend beruhigte es sich. Es schrie nicht mehr, sondern schlief sanft ein.
„Ich bin ein Kind des Schattens“, erklärte der Magier, während Simon seinen Blick nicht von der fürsorglichen Mutter und ihrem Sohn abwenden konnte. „Ich bin in einem Moment geboren worden, in dem die Welt im Schatten lag. In der Sekunde, als die Natur ein einzigartiges Schauspiel vollführte. Ich gab meinen ersten Laut von mir, als sich für die Dauer eines Augenschlags zwei Kräfte entfalteten und sich miteinander verbanden: Schatten und
Weitere Kostenlose Bücher