Der Zeitenherrscher
Jahre hatte er zwar in Ruhe verbracht, doch dies war lediglich die Ruhe vor dem Sturm. Das, was Christian als Ruhe empfunden hatte, war lediglich das Warten des Magiers auf den rechten Augenblick gewesen.
Wie schnell der Mensch doch leichtgläubig und sorglos wurde, wenn für eine kurze Zeit einmal Windstille herrschte.
Er, Christian, hatte seine Familie in Gefahr gebracht!
Der Anblick des leeren Bootshauses gab Christian einen Stich ins Herz. Plötzlich jedoch ging ein Ruck durch ihn hindurch,und er kam zur Besinnung. Was stand er hier herum? Wieso bedauerte er sich selbst, statt zu handeln? Es war gewiss noch nicht zu spät. Simon stand unter der Macht des Schattengreifers, doch der Einfluss des Magiers konnte noch nicht sehr groß sein.
Christian rannte los. Jede Sekunde zählte. Je schneller es ihm gelingen würde, Simon zu finden, desto eher konnte er ihm beistehen, ja, ihn vielleicht sogar aus dem Bann des Magiers retten.
Beinahe wäre er gestolpert, so schnell hetzte er den Weg zum Haus zurück. Schweißüberströmt rannte er durch die Tür und die Treppe hinauf, gleich drei Stufen auf einmal nehmend. Er riss die Tür zu Simons Zimmer auf und atmete zum ersten Mal richtig durch.
Er blickte sich um. Hektisch. Fieberhaft.
Was suchte er hier? Eine Spur? Einen Hinweis?
Warum ging er nicht gleich in den Garten, um …?
Christian wischte sich über das nasse Gesicht. Er hatte eine ganz bestimmte Vermutung. Erneut verspürte er Angst. Er suchte nach einem Hinweis, auch wenn dieser seine Sorge um Simon vermutlich ins Unendliche steigern würde.
Nur deshalb stand er nun hier, in dem Zimmer seines Sohnes, statt gleich in den Garten zu gehen und sich den Spaten zu greifen.
Er ließ sich auf die Knie fallen und blickte unter das Bett. Einzig Simons Baseballschläger lag dort und der weiße Baseball, mit der Unterschrift von Eddy Rosenthal, Simons Sport-Idol.
Der Vater riss die riesige Schublade des Nachttisches auf und fand darin das übliche Chaos vor: über ein Dutzend Bücher, dieSimon lieber hier aufbewahrte als in einem Bücherregal. „In einem Regal sehen sie wie Teile eines Möbelstückes aus“, sagte Simon immer. „Aber hier liegen sie wie in einer Schatzkiste. Und das sind sie ja auch: Abenteuerschätze. Jede Nacht schlafe ich wie neben einer Truhe voller Geheimnisse und Reichtümer ein.“
Wie oft hatte Christian diesen Ausspruch gehört? Doch nie zuvor war ihm bewusst geworden, wie sehr Simon seine Bücher liebte. Und seinen Sport. Und …
Christian zwang sich zur Ruhe. Es brachte nichts, in Mitleid zu zerfließen. Er konnte seinem Sohn nur helfen, wenn er jetzt …
Gerade als er sich von der Bücherschublade abwenden wollte, fiel sein Blick auf die Ecke eines Blattes, das unter einigen Büchern herausschaute. Christian hob die Bücher heraus und entdeckte einen Notizblock, dessen oberste Seite mit Notizen übersät war: Zahlen, Namen und eine kleine Skizze.
Christian blieb das Herz stehen. Mit zittrigen Händen zog er den Notizblock hervor. Er wagte kaum einzuatmen. Mit einer Hand hielt er sich den Block vor die Augen, mit der anderen Hand strich er über die Zeichnung am unteren Ende des Blattes: einer Bugfigur.
Christian blickte auf die Zeichnung eines Krähenkopfes, der ihm nur allzu bekannt vorkam und der in ihm das Blut zum Gefrieren brachte.
Dieses Mal formte sich aus den verlaufenden Farben keine neue Umgebung um Simon und den Schattengreifer. Dieses Mal entstand eine Wand, die sich um die beiden schloss. Sie befanden sich wie in einem runden Raum, dessen Wände hellbraunund dünn wie Pergament waren. Die Landschaft dahinter, der Strand mit seinem angrenzenden Wald, war nur noch schleierhaft zu erkennen.
„Wo sind wir?“, fragte Simon. „Wo habt Ihr mich hingebracht?“
Doch statt eine Antwort zu geben, öffnete der Schattengreifer nur seine dünne Klaue, berührte mit der Hand die dünne Wand, und augenblicklich erhellte sich das Pergament, Farben liefen auf der Wand ineinander und formten ein lebensgroßes Bild vor Simons Augen. Es war, als würde er auf eine Leinwand starren.
Eine Landschaft erschien. Wieder sah Simon das Meer, einen Strand und einen beginnenden Wald. Er blickte also wieder auf die Stelle, an der Simon zuvor die Geburt des Schattengreifers beobachtet hatte.
Es raschelte zwischen den Bäumen, und nur Sekunden darauf kam ein Junge aus dem Wald gelaufen. Wieder war es ein Mensch aus einer frühen Urzeit, das konnte Simon klar erkennen. Das gleiche
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