Der Zeitenherrscher
Schattengreifer, der noch immer hinter ihm stand, in die Augen.
„Das seid ihr!“, brachte er in Gedanken hervor.
Der Schattengreifer nickte und wies mit einer Klaue wieder auf die beiden Menschen.
„Du bist Zeuge des Momentes, in dem alles begonnen hat. Sieh nur hin. Ich möchte dir das alles zeigen. Damit du verstehst.“
Simon richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Mann und auf den Jungen. Jetzt, mit der Gewissheit, dass er den Schattengreifer in seinen jungen Jahren beobachtete, konnte er weitere Ähnlichkeiten mit dem heutigen Magier feststellen: knochendünne, lange Finger, ein gestreckter Hals und die schmalen Lippen. Es berührte Simon sehr, ihn so zu sehen. Der Junge vor ihm war das genaue Gegenteil des Angst einflößenden, unheimlichen Hexenmeisters. Hier stand ein schmaler, unsicherer Junge, dem man nicht einmal zutraute, einen Stein nach einem Kaninchen zu werfen.
Wie war er bloß zu dem geworden, was er heute war?, fragte sich Simon und blickte mit noch größerem Interesse auf das, was in der Höhle geschah.
Der Ältere hob seine Fackel in die Höhe. Er berührte mit dem Zeigefinger vorsichtig das Holz, unmittelbar unter der Flamme, und strich mit seinem Finger über die Höhlenwand vor ihm. So zeichnete er den zehnten Kohlestrich an die Wand. Im nächsten Moment zeigte er in Richtung des Höhleneingangs, wo man sehen konnte, wie sich über den Wellen die Sonne langsam erhob und einen neuen Tag ankündigte.
Der Finger des Alten wanderte wieder zurück und wies auf den neuen Strich. Das alles lief sehr ruhig ab, geradezu feierlich.
Das Gesicht des jungen Schattengreifers hellte sich auf. Seine Augen weiteten sich vor Erstaunen, der schmale Mund öffnete sich, und in diesem Augenblick vernahm Simon die Stimme des heutigen Schattengreifers in seinem Kopf: „Dies ist dieSekunde, in der ich mir über die Zeit bewusst wurde“, erklärte er, und seine Stimme klang ruhig und konzentriert. „Der weise Alte aus meinem Stamm gab mir zu verstehen, dass wir die Zeitabläufe um uns herum messen und einteilen konnten. Er war der erste Mensch, der die Tage zählte und notierte, und er wollte mich einweihen in seine einfache Wissenschaft. Ich verstand sofort. Doch gleichzeitig wurde mir in diesem Moment weit mehr klar als nur dieses. Ich verstand in diesem Moment, dass derjenige, der die Zeit beherrschte mächtiger sein würde als alle anderen. Ja, vielleicht sogar mächtiger als alles, was sich auf der Erde bewegt oder sich gar am Himmel zeigt. Natürlich wusste ich noch nicht, dass diese Einteilung einmal „Zeit“ genannt werden würde. Ich hatte auch noch keinerlei Vorstellung davon, was genau die Sonne war oder woher die glitzernden Lichter in der Nacht am Himmel erschienen. Doch einer Sache war ich mir sicher: Ich wollte mehr darüber wissen. Ich wollte das alles beherrschen können. Der Alte hatte mir die Augen geöffnet. Er hatte mir ein Universum an Möglichkeiten erschlossen, und dieses Universum wollte ich beherrschen. Von der ersten Sekunde an.“ Simon blickte in das völlig erstaunte und begeisterte Gesicht des Jungen. Es passte zu dem, was der Schattengreifer beschrieb.
Dem Jungen war anzusehen, dass dies ein Schlüsselerlebnis für ihn war, das ihn prägen sollte.
Die Stimme des Schattengreifers in seinem Kopf unterbrach Simons Gedanken: „Ich fing an zu experimentieren. Alles das ließ mir keine Ruhe mehr. Ganze Stunden, ganze Tage, verbrachte ich damit, die Vorgänge zu studieren, die um uns herum vorgingen.“ Nun klang seine Stimme plötzlich belustigt. „Möchtest du dir das einmal ansehen?“, fragte er, und in derselbenSekunde verschwamm vor Simons Augen das Bild des Mannes und des Jungen.
Eine neue Szene baute sich auf: Sie befanden sich draußen, am Strand des Meeres, wo der junge Schattengreifer am Strand kniete und das Ende eines langen Stockes in den heißen Sand rammte.
Jetzt wurde Simon bewusst, dass der Schattengreifer mit ihm keine Zeitreise unternommen hatte. Simon befand sich im Geist des Schattengreifers. In dessen Erinnerungen. Deshalb war er auch allein hier, ohne die Zeitenkrieger.
Allerdings wirkte das, was er hier sah, unglaublich realistisch auf ihn. Der Geruch der Erde und auch der Wind, der Simon an diesem Strand durch die Haare fuhr. Alles war wirklich, fast greifbar.
Simon verstand nun, dass der Magier ihn überallhin mitnehmen konnte. In jede Epoche, in jede Situation, die der Schattengreifer bisher erlebt hatte. Und Simon fragte sich, was der
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