Der Zeitenherrscher
schwarzen Wolken, und weitere Blitze zuckten auf. Am Bug und am Heck des Seelensammlers begannen die Wellen sich aufzutürmen. Nur noch wenige Augenblicke, und der Seelensammler würde diesen Ort verlassen.
Irgendwohin.
Nirgendwohin.
Der Schattengreifer wandte sich von der Gruppe ab, um sich für diese Reise vorzubereiten.
„Du hättest nicht kommen dürfen!“, schrie Simon seinem Vater zu. „Du hast dich nur sinnlos in Gefahr begeben!“
„Ich bin dort, wo ich sein wollte: an deiner Seite“, entgegnete Christian. „Und ich werde tun, wofür ich gekommen bin!“
„Wie meinst du das?“, fragte Simon skeptisch.
Christian trat an ihn heran. Er murmelte unverständliche Worte. Sie klangen wie Beschwörungsformeln. Wie ein langer Zauberspruch.
Simon trat einen Schritt von ihm fort. „Was hast du?“
Blitzschnell schoss die Hand des Vaters hervor und packte Simons Handgelenk.
„Was soll das?“
Doch statt einer Antwort strömten die unverständlichen Formeln des Vaters lauter und lauter aus seinem Mund. Inzwischen hatten die beiden auch die Aufmerksamkeit des Schattengreifers wieder erregt. Der Magier stand an der Tür zur Kajüte und blickte alarmiert zu ihnen hinüber. Er verstand augenblicklich, was vor sich ging. Blitzschnell ließ er die Türklinke los und kam an den Bug gerannt. „Nein!“
Simon starrte an seinem Vater hinauf und versuchte zu begreifen, was vor sich ging. Schließlich zog Christian die Raubtierkralle aus seiner Hosentasche, ritzte sich eine lange Wunde in die Handfläche und legte in derselben Sekunde die Haarsträhne von Simons Mutter hinein, zusammen mit der Kralle – gerade in dem Moment, in dem der Schattengreifer seine Klaue nach Simon ausstreckte.
„Vater – was …?“
Um Simon herum wurde es schwarz. Er sah nur noch, wie der Schattengreifer wutschnaubend auf ihn zustürzte. Sah, wie die Zeitenkrieger entsetzt auf ihn blickten. Wie Neferti ihm noch etwas zurief, das er nicht verstehen konnte, denn die Worte seines Vater legten sich darüber: „Ich liebe dich, mein Sohn“,als endgültig alles um ihn herum schwarz wurde und er spürte, wie die Welt sich schneller und schneller zu drehen begann.
„Simon?“
Die Stimme seiner Mutter weckte ihn sanft.
„Simon?“
Es fiel ihm schwer, zur Besinnung zu kommen. Alles in ihm schien wie erstorben. Er spürte seinen Herzschlag kaum, und es war ihm, als atme er nicht.
„Simon. Bitte!“
Sie weinte. Er fühlte etwas Warmes auf seinem Gesicht. Tränen?
„Bitte, Simon!“
Etwas tauchte in seinen Gedanken auf. Etwas suchte sich den
Weg zu ihm, aus seiner Erinnerung. Etwas … Nein: jemand. Neferti. Er sah ihr Gesicht. Und das von Moon. Nin-Si tauchte auf.
Und Caspar. Sie lächelten ihm zu. Und auch, wenn Simon bewusst war, dass er sie nur in seinen Gedanken sah, war er ihnen dankbar für diese Geste ihrer Freundschaft. Und jetzt verstand Simon auch Nefertis Worte. Er konnte sie von ihren Lippen ablesen, in diesem Moment, in dem er sie wieder klar vor sich sah: „Wir sehen uns wieder“. Das waren ihre Worte, als er vorhin …
„Simon …“
Hinter Neferti tauchte etwas Neues auf. Größer, mächtiger als die Zeitenkrieger. Ein Schatten.
Er.
Der Schattengreifer.
Baute sich hinter den anderen auf. Er grinste breit. Beinahe hinterlistig. Und er hatte jemanden bei sich. Einen Mann.
Simon riss die Augen auf. „Vater!“
„Oh, was für ein Glück“, stieß seine Mutter erleichtert hervor. „Du lebst. Du …“
Simon sprang auf seine Füße. Er ignorierte das Schwindelgefühl, das ihn übermannte. Er warf seiner Mutter noch einen Blick zu, dann machte er sich auf den Weg. Er rannte über die Wiese, durch die enge Zauntür. Rannte den steilen Weg hinunter, an dem Bootshaus vorbei an den Meeresrand. Und dann erblickte er ihn: den Seelensammler.
Das Schiff lag ruhig auf den Wellen. Beinahe zum Greifen nahe, doch so weit entfernt, dass Simon nichts darauf erkennen konnte.
„Vater!“, schrie der Junge verzweifelt. „Moon! Caspar, Nin-Si!
Oh bitte – Neferti!“
Er ließ sich erschöpft auf die Knie fallen. Tränen schossen ihm in die Augen. „Nein! Bitte nicht!“
Das Wasser des Meeres umspielte seine Knie. Simon reckte dem Schiff die Hände entgegen. Gerade so, als könne er es dadurch erreichen. Doch das Gegenteil geschah. Das Bild des Seelensammlers wurde blasser. Es verschwamm.
„Nein! Caspar! Nicht! Neferti! Moon!“ Die Tränen flossen ihm nun in Strömen über das Gesicht. „Nin-Si, ich bin
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