Der zeitlose Winter
gegenwärtigen Winter hervorgerufen hat? Wie ist das möglich?«
»Als der Erlkönig nach Walhalla zurückkehrte, stellte er fest, dass Idun fort war. Sie war für immer verschwunden. Und ohne die Prophezeiungen der Pergamentrollen besaßen die Nornen keine Muster für ihre Wandteppiche. Damit die Welt jedoch bestehen blieb, musste ihre Geschichte weiter gewebt werden. Also taten sie das Einzige, was sie tun konnten – sie webten jene Wandteppiche neu, die sie bereits besaßen. Um dies zu tun, mussten sie zunächst den von ihnen gewählten Teppich entflechten, und während dieser Zeit ist das Muster des Gewebes im Fluss. Es kann die Gestalt annehmen, die es vorher besaß, es kann aber auch zu einem vollkommen neuen Gebilde werden. Ich glaube, eben das geschieht gerade mit der Welt: Ein Prozess des Neuwebens ist im Gange und der Teppich, der entflechtet wird, stammt aus einer lange zurückliegenden Zeit. Eine Zeit, in der die Welt kälter war und unwirtlicher und alles in allem nicht besonders angenehm.«
»Mein Gott«, sagte Fischmehl. »Ich kann nicht glauben, was du da sagst. Andererseits habe ich auch keine bessere Erklärung – oder eine schlechtere, je nachdem. Ich habe nur eine Frage: Was ist mit den Erlkönigen passiert?«
»Sie wurden bis an die Enden der Schöpfung verstreut, um in der Verbannung zu regieren«, sagte Wasily. »Ihre Frauen, die Sibyllen, kümmerten sich weiterhin um die Wandteppiche. Sie glaubten, dass die Zeit selbst ein Kreislauf sei und dass die Welt eines Tages erneut an ihren Anfang zurückkehren würde, sobald alle verfügbaren Teppiche neu gewebt waren. Sie hofften, dass nach dem Weben der letzten Geschichte, wenn keine neuen Kombinationen alter Muster mehr möglich waren, Idun vielleicht erneut den Lauf der Welt weiterschreiben würde. Also machten sie es sich zur Aufgabe, die bereits vorhandenen Geschichten aufzubewahren, und jene zu katalogisieren, die durch das Neuweben entstanden. Sie rechneten jedoch nicht mit der Unermesslichkeit der Zeit. Wenn ein Kreis groß genug ist, scheint er seine Krümmung zu verlieren, und viele Sibyllen fielen dem eintönigen Ablauf der Zeit zum Opfer. Nach und nach wurden sie durch Gelehrte ersetzt oder durch Wanderer, deren Intuition sie zu der neu entstandenen Bibliothek geführt hatte, um ihre eigenen Geschichten beizusteuern. Allmählich gaben sogar die Sibyllen ihre Arbeit auf, bis schließlich keine mehr übrig blieb, die sich aus eigener Erfahrung an den großen Riss in der Welt erinnerte. Es blieben nur jene, die alles aufzeichneten, so wie es geschehen war – wieder und wieder und wieder.«
»Und was ist mit den Erlkönigen – deinen Vorvätern? Wenn sie die Gabe eines langen Lebens besaßen…«
»Ja«, sagte Wasily. »Es gibt immer noch einige, die auf der Erde wandeln und vielleicht sogar ein paar von Odins eigenen Söhnen aus dieser lang vergangenen Zeit. Was jedoch wichtiger ist: Manche von denen, die später kamen und sich um die Geschichten kümmerten, standen ebenfalls außerhalb der Grenzen der Zeit. Einer von diesen ist es – er ist alt, aber nicht der Älteste –, den wir meiner Ansicht nach ausfindig machen müssen, wenn wir irgendetwas unternehmen wollen.«
»Du meinst, um das Klima der Welt vor diesem dauerhaften Winter zu bewahren?«
»Wenn nichts Schlimmeres passiert«, sagte Wasily ernst, »dann hat die Welt vor den Göttern Gnade gefunden – zumindest vor jenen, die immer noch über uns wachen.«
Fischmehl schritt einige Minuten im Raum auf und ab und setzte sich dann wieder dem Skalden gegenüber. »Ich habe nur noch eine Frage.«
»Bitte.«
»Der Erlkönig, der die Schuld an all dem trägt – was ist mit ihm passiert?«
»So weit ich weiß«, erwiderte Wasily nach einer kurzen Pause, »wandert er immer noch durch die Welt, auf der Suche nach der Geliebten, die er verraten hat – auf der Suche nach Idun.«
In diesem Augenblick läutete die Kapitänsglocke und Fischmehl sprang auf die Füße. »Ich werde an Deck gebraucht«, sagte er, zog sich einen Pullover über und ging zur Tür. »Ich bin so bald wie möglich wieder da.«
Bevor der junge Kartograf hinausging, verharrte er einen Augenblick lang nachdenklich an der Tür.
»Was ist?«, fragte Wasily.
»Ich habe mich gefragt«, sagte Fischmehl, »wie der Name des Erlkönigs lautete?«
Wasily blickte ihn lange an. Die Glocke läutete zum zweiten Mal, dann ein drittes und ein viertes Mal, und als er ihm schließlich antwortete, war seine Stimme
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