Der zeitlose Winter
konnte es mit dem jüngsten Erlkönig sehr wohl aufnehmen. Die anderen Erlkönige betrachteten das Ganze als ein großes Spiel und waren deshalb unachtsam, als König Gard sich Schritt für Schritt das Wissen, das er von dem dritten erhalten hatte, zunutze machte.«
»Worauf war er aus?«
»Er wollte herausfinden, woher die Götter ihr Wissen über die Zukunft der Welt nahmen. Ihn erstaunte ihre Fähigkeit, Ereignisse und Menschen zu beeinflussen, und er fragte sich, ob sie dies ihrer eigenen Größe verdankten oder dem Einfluss einer höheren Macht.«
»Was zutreffend war«, warf Fisch ein, »Sie besaßen die Wandteppiche.«
»Ja«, antwortete Wasily, »aber die Existenz der Nornen war bekannt. Gard verlangte es nach tieferem Wissen.«
»Er wollte Idun.«
»Ja.«
»Hat niemand sie jemals ausfindig gemacht? Den anderen Erlkönigen oder vielleicht den Asen ist diese Frage doch sicherlich schon früher einmal gestellt worden?«
»Tatsächlich hat einer dieser Suchenden Odin selbst aufgesucht«, sagte Wasily, »ein Zwerg namens Alberich. Aber er wollte mehr als Wissen – er wollte die Sibylle, und das konnte Odin nicht zulassen.«
»Was hat er getan?«
»Ich bin nicht selbst dabei gewesen«, sagte Wasily, »aber es genügt wohl, wenn ich sage, dass ich aus sicherer Quelle weiß, dass Odin ein Rätselspiel mit ihm gespielt hat, bis der Besucher seinen wahren Namen enthüllte. Dann hat Odin ihn zu Stein verwandelt.«
»Wie lautete sein wahrer Name?«
»Buri«, sagte Wasily mit einem tiefen Seufzen. »Sein Name war Buri.«
Fisch blinzelte überrascht. »So wie Odins Vater?«
Anstatt den Kopf zu schütteln, rümpfte Wasily die Nase. »Nein, der Zwerg war Odins Vater, und zwar in Verkleidung. Schau nicht so erschrocken, Junge – Geschichte und Mythologie sind durchsetzt mit Vatermorden. Das ist die weit verbreitetste Methode, seinen Stand zu verbessern.«
»Was ist also mit König Gard passiert?«
»Gard hatte den Erlkönig von seinen älteren Brüdern weggelockt und ihn durch Schmeicheleien zu dem Eingeständnis gebracht, dass er allein die Quelle des Wissens der Nornen und der Weisheit der Götter kenne. Und mehr noch, er überzeugte den Erlkönig davon, ihn in dieses Geheimnis einzuweihen. Idun und der jüngste Erlkönig verbrachten jedes Jahr nur eine einzige Nacht zusammen – das war der einzige Tag, an dem sie die Höhle mit den Pergamentrollen verließ. Und wie es sich ergab, war König Gard genau an diesem Tag gekommen. Der Erlkönig versteckte König Gard in einem großen Saal in der Walhalla und brachte dann seine Frau in ihre Schlafgemächer. Als sie schließlich eingeschlafen war, schlich er sich aus Asgard fort und nahm Gard mit sich. Sie gingen zu der Höhle mit den Pergamentrollen, und der junge Erlkönig zeigte sie König Gard – und dort im Herzen der Welt, wo alle Masken fallen und nichts verborgen bleibt, erkannte er, wer sein Gast wirklich war: Loki, der Betrügergott. Loki, der Odins Bruder, aber einer der geringeren Asen war, hatte schon lange das Geheimnis von Odins Macht über Menschen und Götter lüften wollen - und mehr noch, er wollte den Tod ihres Vaters Buri rächen. Loki geriet in Wut über das, was er sah. Er konnte nicht glauben, dass eine Höhle voll Pergamentrollen der Hexenkessel sein sollte, in dem das Schicksal der Welt zusammengebraut wurde. Der Erlkönig konnte nur entsetzt zusehen, wie Loki die Türen weit aufriss, um nachzuschauen, ob irgendein Schatz dahinter verborgen war. Ein mächtiger Wind fegte in die Höhle und verstreute die Pergamentrollen von einem Ende der Erde zum anderen.«
Fischmehl konnte nicht anders, als mit gesenktem Blick leise ein Gebet zu murmeln, während Wasily unaufhaltsam auf das Ende zusteuerte, das – wie er wusste – kurz bevor stand.
»Die Welt wurde durch den Verlust der Pergamentrollen beinahe zerstört. Walhalla brach in Stücke und Asgards Türme stürzten ein. Gewaltige Erdbeben und Flutwellen erschütterten die Erde – Götter starben, Menschen starben, Riesen starben. Die Welt selbst hätte aufgehört zu existieren, wäre Odin nicht gewesen. Er opferte sich, um das Gleichgewicht wieder herzustellen. Loki wurde gefangen genommen und für sein Verbrechen zur Rechenschaft gezogen, aber zu diesem Zeitpunkt war es bereits zu spät. Der Schaden war angerichtet.«
Fischmehl stand langsam auf und legte eine Hand an die Bordwand des Schiffes. Sie fühlte sich kalt an. »Willst du damit sagen, dass Lokis damalige Tat den
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