Der zerbrochene Kelch
Arm am Felsen hingen. Seine Füße suchten nach Halt, aber der Steinhang war zu glatt. Es gab keine Vertiefungen oder kleine Felsvorsprünge, auf denen er sich abstützen konnte. Eliadis’ Muskeln schienen zu zerspringen, als er Yannis mit einem einzigen Schwung hochzog und der Junge sich an seinem Gürtel festhielt.
»Los, kletter auf meinen Rücken. Mach schon!«
»Ich kann nicht. Es geht nicht!«
Eliadis atmete tief durch. Karen hatte tatsächlich Recht gehabt, der Junge war zu schwer. Sie würden es niemals zusammen bis nach oben schaffen. Nikos sah nach unten. »Michael? Bist du da?«
»Ich bin hier. Genau unter euch.«
»Wie weit ist es zu dir?«
»Nicht weit. Vier oder fünf Meter. Ihr könnt das schaffen.«
»Okay, ich komme mit ihm runter. Yannis, du kletterst gleich mein rechtes Bein runter, wenn ich es sage, verstanden? Aber noch nicht. Warte, bis ich Bescheid gebe.«
Yannis murmelte etwas Unverständliches, was Eliadis nicht interessierte, da er sich auf den Abstieg konzentrierte. Der Junge hing wie ein nasser Sack an Eliadis’ rechter Seite, sodass er das Bein nicht mehr zum Haltsuchen benutzen konnte.
Mansfield stand unter ihnen und versuchte seine Augen vor dem herabrieselnden Staub zu schützen, während er Eliadis’ Himmelfahrtskommando beobachtete. Minuten schienen zu Stunden zu werden, bevor er ihm zurufen konnte, dass Yannis es jetzt versuchen sollte.
Nikos gab ihm den Befehl, und der Junge begann vorsichtig an seinem rechten Bein hinunterzuklettern. Zuletzt hing er nur noch an Eliadis’ Knöchel.
Mansfield versuchte Yannis’ Füße zu erreichen, die über dem Felsvorsprung hingen, doch er kam nicht ran. Es fehlte ungefähr ein halber Meter.
»Wie sieht es aus, Michael? Hast du ihn?«
»Nein. Aber es fehlt nicht mehr viel. Er kann dich loslassen, ich fang ihn dann auf.«
»Du bist verrückt!«, stieß Eliadis hervor, und Schweißperlen rannen ihm übers Gesicht. »Dort, wo du stehst, hast du nicht viel Platz. Sein Schwung wird dich aus dem Gleichgewicht bringen.«
»Blödsinn. Was willst du sonst machen? Weiter runter-klettern? Der Junge kann sich doch keine halbe Minute mehr halten!«
Eliadis atmete erneut tief durch. Die Kraftanstrengung machte es schwer, gegen Mansfield zu argumentieren.
»Also gut, mach dich bereit. Er wird mich gleich loslassen.« Und nach einem kurzen Befehl an Yannis ließ dieser seinen Knöchel los und rutschte den Abhang hinunter, direkt in Mansfields Arme. Der Schwung war trotzdem so stark, dass sie beide zu Boden gingen, aber Mansfield passte auf, dass sie sofort in die kleine Nische rollten, die unter dem Felsvorsprung war.
»Bist du okay?«, fragte er Yannis, der diese kurze Frage ohne Probleme verstand und vorsichtig lächelte. »Tapferer Junge«, sagte Mansfield und strich ihm über die verstaubte Wange.
Doch plötzlich kam ein lautes Rumpeln von oben. Sie sahen eine große menschliche Silhouette am Felsvorsprung vorbeigleiten. Mansfield sprang nach vorn und griff reflexartig nach Eliadis’ Hemd, das sich reißend in Luft auflöste, während die Hand des Griechen nach seinem Unterarm griff.
»Halt dich fest«, schrie Mansfield. Er stemmte sich gegen die Felsbrocken, die neben ihm standen, und zog Eliadis mit mehreren Zügen so weit hoch, dass er selbst an der Kante Halt fand und sich hochziehen konnte. Beide rollten sie auf dem Rücken ab und blieben für Sekunden nach Luft ringend liegen. Doch dann stürmte Yannis auf seinen Bruder zu, und sie umarmten sich. Eliadis hielt den Jungen, als ob er ihn nie wieder hergeben wollte.
»Nikos! Yannis!«
Karen kam den Weg hinuntergerannt und stürzte auf die beiden zu und drückte sie fest an sich.
Mansfield saß daneben und sah Karens Tränen, die aus Erleichterung die Wangen hinunterrollten. Wie sie den Jungen anlächelte. Und wie innig sie mit Nikos umging.
Eliadis merkte, dass Mansfield sie beobachtete, und schob Karen ein wenig zur Seite, ehe er aufstand und mit Yannis zusammen den Berg hinunterging.
Karen drehte sich um und sah Michaels fragenden Blick. Sie lächelte beschämt, als sie zu ihm ging, ihn umarmte und ihren Kopf an seine Brust legte.
Mansfield wusste, dass dies ihre Geheimwaffe war, wenn sie ihn besänftigen wollte, und auch diesmal konnte er nicht anders, als seine Arme um sie zu legen und sie an sich zu drücken.
Gemeinsam folgten sie Eliadis und Yannis den Weg hinunter zum Camp, von wo ihnen einige Delpher und Polizisten entgegenkamen.
64
Am nächsten Nachmittag saßen
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