Der zerbrochene Kelch
Ihr Abendbrot gerade auf der Campstraße verflüchtigt hat, sollten Sie die Chance nutzen und mit mir zusammen eine der besten Tavernen zwischen Arachova und Patras kennenlernen.«
Karen schob die Oliven zur Seite und griff nach dem heil gebliebenen Gurkenglas, das auf der Arbeitsplatte vor ihr stand. Vor zwei Tagen war sie noch mit Michael in New York essen gegangen, und jetzt sollte sie gleich am ersten Tag mit diesem Archäologen ausgehen?
Delvaux bemerkte den Ring mit den drei Brillanten an ihrer rechten Hand und musste kurz darüber nachdenken, auf welcher Seite Amerikaner ihren Ehering trugen. Wenn ihn nicht alles täuschte, trugen sie ihn an der linken Hand und Karens Ring wäre nur ein Freundschafts- oder Verlobungsring. In Deutschland trug man den Ehering allerdings rechts, aber eigentlich war Delvaux das völlig egal, denn ob eine Frau verheiratet war oder nicht, interessierte ihn nicht. Und die meisten Frauen, die er kannte, machten sich darüber auch keine Gedanken.
Er betrachtete Karens hübsches Gesicht und lächelte insgeheim. Immerhin schien sie über seinen Vorschlag nachzudenken, anstatt ihn sofort auszuschlagen.
»Kommen Sie«, bat er leise. »Von dem, was Ihr Unfall heil gelassen hat, wird doch nicht einmal ein Kind satt.«
Karen stand unschlüssig vor den Resten ihres halb vernichteten Abendessens, als ihr Magen mit einem gewaltigen Knurren auf sich aufmerksam machte.
Delvaux biss noch mal in den Apfel. »Hören Sie? Ihr Magen sehnt sich auch nach einer großen Fleischplatte anstatt nach einem dünnen Brot mit … hm, was ist noch übrig geblieben? Paprika? Ach nein, Gurken und ein paar Oliven.«
Karen musste lachen, als sie an das Gurkenglas dachte, das als Einziges nicht kaputtgegangen war. Leider hatte Delvaux Recht. In dieser Hütte würde sie heute Abend nichts Ordentliches zu essen bekommen, und dabei knurrte ihr Magen schon seit dem frühen Nachmittag. Die einzige Möglichkeit wäre gewesen, noch mal ins Dorf zu fahren und neu einzukaufen, aber dazu hatte Karen wirklich keine Lust. Also gab sie sich einen Ruck.
»Na gut, Simon, ich komme mit, aber ich zahle mein Essen selbst.«
Delvaux seufzte. »Von mir aus, wenn Sie sich dann besser fühlen. Das ist übrigens typisch deutsch. Die Griechen nennen es die alemannische Art, wenn jeder Gast seine eigene Rechnung zahlt. Das macht in Griechenland sonst kein Mensch. Hier trifft man sich mit Freunden, und ein Einziger zahlt die gesamte Rechnung. Das geht dann reihum, und jeder ist irgendwann mal dran.«
»Das mag sein, aber wir sind beide keine Griechen. Oder haben Sie sich noch mit Freunden zum Abendessen verabredet?«
»Nein, habe ich nicht. Ich müsste heute allein Yiorgos’ Lammbraten genießen, wenn Sie nicht mitkämen.« Er betrachtete ihre kurzen olivefarbenen Shorts. »Allerdings sollten Sie vorher noch eine lange Hose anziehen und vielleicht eine dünne Jacke mitnehmen. Es wird abends schnell kühl, und es kann sein, dass wir bei Yiorgos draußen auf der Terrasse sitzen müssen, wenn das Lokal voll ist.«
»Ist die Taverne so gut?«
»Die beste weit und breit. Sie werden es nicht bereuen.«
Mit einem Schmunzeln ging Karen an ihm vorbei ins Schlafzimmer und kam nach einigen Minuten mit einer sandfarbenen Cargo-Hose und einer sportlichen Fleece-Jacke wieder heraus. Das Handy hatte sie in den Shorts gelassen, aber das Portemonnaie steckte sie schnell in die Jackentasche, ehe sie zu Delvaux in den Opel stieg. Sie fuhren durch Delphi und dann die Nationalstraße entlang zum Meer hinunter. Auf halber Wegstrecke deutete er plötzlich nach links.
»Dort hinten lag das alte Dorf Krissa, das Homer schon beschrieben hat.«
Karen lief eine Gänsehaut über den Rücken. »Sie meinen dieses schreckliche Räubernest, dessen Bewohner die Pilger überfielen und sie ausraubten und die Frauen vergewaltigten?«
»Ja. Dafür wurden sie ja auch bestraft. Trotzdem wird dieses Tal immer noch Krissa-Tal genannt.«
Karen sah aus dem Fenster hinaus auf die alten Olivenbäume, die sich rechts und links neben der Straße bis zu den Berghängen des Tals erstreckten. »Es war eine heilige Talebene, nicht wahr?«
»Ja. Man befragte eines Tages das Orakel von Delphi, ob man diese Ebene bepflanzen dürfe, denn so gutes landwirtschaftliches Land war hier in der felsigen Gegend selten. Aber die Pythia sagte, dass das Land Apollon gehöre und kein Mensch es nutzen dürfe.«
»Aber sie haben es dann doch getan«, sagte Karen mit einem leicht deprimierten
Weitere Kostenlose Bücher