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Der Ziegenchor

Der Ziegenchor

Titel: Der Ziegenchor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
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spüren zu bekommen, denn er hielt immer wieder aus unersichtlichen Gründen an und blickte sich um. Gegen Mittag befanden wir uns bereits hoch über der Anbaugrenze, und dort gab es nur ein paar abgemagerte Schafe zu sehen, die wie kleine weiße Dornbüsche überall verstreut waren. Der Taxiarchos hatte einen Paradeschritt angeschlagen und irgendeinen militärischen Chor angestimmt, um das Marschtempo vorzugeben; aber das Lied war bald einer Festspielhymne gewichen, die wiederum in eine Art Klagelied überging, das sich um den Tod von Theseus drehte. Niemand kannte den Text, und seine Stimme wurde immer leiser, bis er schließlich nur noch vor sich hin summte.
    Plötzlich stürzten von allen Seiten Felsbrocken auf uns herab. Der erste prallte direkt vor den Füßen unseres einheimischen Führers auf, der daraufhin offenbar zu der Ansicht kam, daß es umgehend Zeit für ihn sei, nach Hause zu gehen. Der Taxiarchos wollte ihn sich greifen, aber er wurde von ein paar kleinen Steinen an der Rückenplatte getroffen und fiel hin. Irgend jemand schrie etwas, doch keiner von uns konnte ihn verstehen – schließlich hatten wir die Helme auf, und natürlich kann man unter einem Helm nichts mehr hören, eine Tatsache, die sich der durchschnittliche Taxiarchos (oder eigentlich Heerführer) nur schwer merken kann. Als ich sah, daß Artemidoros niederkniete und sich den Schild über den Kopf hielt, entriß ich dem kleinen Zeus meinen Schild und folgte seinem Beispiel. Irgend etwas krachte auf den Schild, wie ein ungeladener Gast in eine Feier hineinplatzt, und ich erinnere mich noch, daß ich gedacht habe: Du meine Güte, daß Ding hat bestimmt den neuen Bronzeflicken durchschlagen! Dann spürte ich einen heftigen Schlag auf den Hinterkopf, und der Helmbusch, mit dessen Befestigung Kallikrates und ich uns so lange abgeplagt hatten, lag neben mir auf dem Boden. Ich ließ den Speer los, um den Helmbusch aufzuheben, wobei der Speer natürlich den Berghang hinabrollte. Ich blieb, wo ich war; doch der kleine Zeus, der die ganze Zeit versucht hatte, seinen riesigen Körper unter einen schmalen Felsvorsprung zu zwängen, sprang auf und rannte wie ein Hund, der einen Hasen jagt, hinter dem Speer her. Ich rechnete fast damit, daß er ihn zwischen den Zähnen zurückbringen werde.
    Von hinten stieß mich jemand an, und ich sah, daß wir weitergingen. Der Taxiarchos war wieder auf den Beinen und wischte sich den Staub vom Umhang. Niemand schien ernsthaft verletzt worden zu sein. Ich reihte mich neben Artemidoros ein und schob meinen Helm nach oben über den Hinterkopf. Er tat das gleiche, und wir konnten miteinander sprechen.
    »Was hatte das eben überhaupt zu bedeuten?« fragte ich ihn aufgeregt.
    »Das könnten die Räuber gewesen sein«, antwortete er in ernstem Ton, als wäre er Miltiades persönlich, der gerade einen feindlichen Verband abschätzte. »Vielleicht aber auch nur ein paar aufgeschreckte Schafe oder so was, ich habe keine Ahnung. Jedenfalls glaube ich nicht, daß der Taxiarchos allzu erfreut ist.«
    Ich wischte mir den Schweiß aus den Augen, und mein rechter Arm schien völlig taub zu sein. »Was machen wir jetzt?« fragte ich ängstlich. »Ich meine, gehen wir überhaupt weiter, oder was?«
    »Natürlich marschieren wir weiter«, entgegnete Artemidoros. »Wart erst mal ab, bis du an ein paar richtigen Schlachten teilgenommen hast. Als ich das erstemal in einem Kampf war, haben wir einige Reiter herankommen sehen – eine riesige Staubwolke war das, und wir hatten schreckliche Angst. Ich habe mir das ganze Bein vollgepinkelt, so was hatte ich noch nie erlebt. Tatsächlich waren das aber nur unsere eigenen Leute. Als wir endlich den Feind zu sehen bekamen, waren wir alle vom Hin- und Hermarschieren in der Hitze so kaputt, daß wir gar keine Angst mehr hatten, sondern nur noch froh waren, es hinter uns zu bringen. Das hier ist nur reine Routine.«
    Während wir weitermarschierten, fühlte ich mich allmählich unerträglich müde – meine Beine wurden immer schwächer, und ich mußte mich auf der Schulter des kleinen Zeus abstützen. Offensichtlich war auch das wegen des zuvor erlittenen Schocks ganz normal, aber dadurch wurde die Sache nicht leichter. Als ich Artemidoros fragte, ob mit weiteren Schwierigkeiten zu rechnen sei, stützte er sich auf seine enorme militärische Erfahrung und antwortete, nein, wahrscheinlich nicht.
    Wir waren an der Seite eines Ausläufer vorbei in einen engen Hohlweg gekommen, wobei sich die

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