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Der Ziegenchor

Der Ziegenchor

Titel: Der Ziegenchor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
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Hauptmasse des Berges zu unserer Rechten und eine Art Schutzwall aus nacktem Fels zu unserer Linken befanden. Genau solch eine Stelle kannte ich noch vom Parnesgebirge her, wo ich als Junge oft unter einem krummgewachsenen alten Feigenbaum gelegen und mir vorgestellt hatte, ein athenischer Heerführer zu sein, wobei das spartanische Heer so dumm gewesen war, geradewegs in diese perfekte natürliche Falle hineinzulaufen. Die endgültige Aufstellung der Soldaten, für die ich mich damals nach etwa einjährigem, immer wieder unterbrochenem Nachdenken entschieden hatte, bestand darin, meine schweren Fußtruppen an beiden Enden zu postieren (wie Leonidas am Thermopylenpaß) und die leichten Fußtruppen auf die Anhöhen zu beiden Seiten zu stellen, um sie von dort aus Speere schleudern und werfen zu lassen.
    Vielleicht hätte ich lieber ein Heerführer werden sollen. Ich wollte gerade dem kleinen Zeus die Geschichte erzählen, als ich einen leichten Schlag auf meinen Schild spürte, wie den ersten Regentropfen auf einem Dach. Es gab über die ganze Reihe verteilt noch andere Schläge, und wir sahen uns um. Dann sank einer auf die Knie, hob sich den Schild vors Gesicht, und uns wurde klar, was vor sich ging; wir wurden von Schleuderern beschossen, die auf der Bergwand postiert waren. Diesmal war ich nicht annähernd so erschrocken; nach der Anspannung der vergangenen paar Stunden war dieser Angriff sogar fast so etwas wie eine angenehme Erleichterung. Worauf ich nicht gefaßt war, waren die Schleuderbolzen, die von der anderen Seite des Hohlwegs kamen. Ich riß mich so gut wie möglich zusammen und steckte den Kopf in die Mulde des Schilds, wurde aber nicht getroffen, obwohl ich zu beiden Seiten von mir Schleuderbolzen auf den Boden niederprasseln hörte.
    »Setz deinen Helm auf, du Narr!« zischte mir jemand ins Ohr, und mir fiel ein, daß ich meinen Helm noch immer auf dem Hinterkopf sitzen hatte. Als ich die Hand heben wollte, knallte mir irgend etwas gegen den Unterarm. Ich fluchte, wobei ich sämtliche Götter anrief, die mir in den Sinn kamen. Dann erst bemerkte ich, daß der Schlag nicht besonders heftig gewesen war, denn ich konnte noch alle Finger und auch alles andere bewegen.
    Moment mal, sagte mir meine innere Stimme, die sind bestimmt außer Reichweite.
    Einen Augenblick lang dachte ich darüber nach und blickte dann links von mir nach oben. Tatsächlich machte ich gegen den Himmel eine Gestalt aus; einen Jungen, vielleicht dreizehn Jahre alt, der gerade seine Schleuder lud. Er stand wenigstens fünfzig Meter von uns entfernt, viel zu weit also, um jemanden ernsthaft verletzen zu können, insbesondere einen Mann in voller Rüstung. Plötzlich kam ich mir äußerst albern vor – ein schwerbewaffneter athenischer Fußsoldat, der Schrecken der griechischen Welt, duckt sich ängstlich unter seinen Schild, weil ihm vor dem vollkommen wirkungslosen Angriff eines dreizehnjährigen Ziegenhirten bereits das Blut in den Adern gerinnt.
    Meine Kameraden gelangten allmählich zu demselben Schluß und ein Mann im besonderen. Ich kann mich nicht an seinen Namen erinnern, aber ich glaube, er war von Beruf Schiffbauer und bestimmt nicht daran gewöhnt, lächerlich gemacht zu werden. Er stand auf, legte seinen Schild behutsam neben sich hin und wandte sich dem Feind zu, um ihm direkt in die Augen zu blicken, wobei er in jeder Hinsicht wie Aias in der Ilias wirkte.
    »Paß mal auf, Junge!« rief er den Berghang hinauf. »Jetzt hör endlich auf damit!«
    Das hatte zwar keine unmittelbare Wirkung, aber nach einer Weile ließ das Prasseln nach, und in die athenische Expeditionsstreitkraft kehrte die gewohnt beeindruckende Ordnung zurück. Gleich darauf bemerkten wir die feindliche Fußtruppe, deren Soldaten sich am Ausgang des Hohlwegs auf ihre Speere stützten.
    Wenn ich von Speeren spreche, übertreibe ich ein wenig. Die meisten besaßen angespitzte Weinpfähle, und einige hatten gar nichts dabei. Da waren vier junge Männer, die sich eine einzige Rüstung teilten – einer hatte den Helm, der zweite den Brustpanzer, und die übrigen beiden hatten je eine Beinschiene; der Rest war mit nichts anderem als selbstgeflochtenen Weidenschilden und Chitons ausgerüstet und ging barfuß.
    Der Taxiarchos stieß einen markerschütternden Schrei aus, woraufhin wir unsererseits aus vollem Hals Io Paianl brüllten und angriffen. Die Samier warfen ihre Speere auf uns und nahmen Reißaus, wobei sie wie Schafe über die Felsen sprangen. Ihr

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