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Der Ziegenchor

Der Ziegenchor

Titel: Der Ziegenchor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
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vielleicht aber auch erst nächsten Monat oder womöglich nach der Feigenernte.
     
    Es kam der Tag, an dem Der Heerführer zu meinem untrennbaren Freud- und Leidwesen fertig war, und so sehr ich mich auch bemühte, fiel mir kein Grund kein, warum ich ihn nicht zum Archon bringen sollte. Alles war praktisch so vollkommen, wie es nur sein konnte. So unterstützten mich mehrere einflußreiche Leute, zu denen auch Philonides höchstpersönlich gehörte, und ich war alt genug, um in meinem eigenen Namen einen Chor zu erwirken. Da fällt mir ein, daß ich versäumt habe, meine Volljährigkeitsfeiern und die Eintragung in das Phratrie-Register zu beschreiben. Als ich mit der Niederschrift dieser Geschichte anfing, hatte ich eigentlich vorgehabt, einen vollständigen Bericht davon zu geben, weil künftige Generation wissen sollten, wie solch eine Zeremonie im Athen auf dem Gipfel der Macht aussah. Aber um Ihnen gegenüber ehrlich zu sein: Das ist eine dermaßen langweilige Angelegenheit, daß ich einfach keine Lust dazu habe. Wenn Sie unbedingt etwas darüber lesen möchten, empfehle ich Ihnen, eine der in Versen abgefaßten Beschreibungen der alten Lyriker auszugraben. Jedenfalls trottete ich mit einem großen Tornister voll von ägyptischem Papyros unglücklich zum Haus meines Onkels hinüber, nahm seinen Schreiber in Beschlag und diktierte diesem das ganze Stück in einem Zug. Danach ließ ich mir von dem armen Kerl alles vorlesen, berichtigte die Fehler und ließ ihn fünf saubere Abschriften anfertigen, wobei ich ihm die ganze Zeit auf die Finger sah, nur um sicherzugehen, daß er seine Arbeit ordentlich erledigte. Ich lebe in der ständigen Angst, daß meine Texte durch unfähige Abschreiber entstellt werden könnten. Meiner Meinung nach kann schon ein kurzes Nachlassen der Aufmerksamkeit gleich eine ganze Rolle ruinieren, und durch die Arbeitsstuben der Abschreiber geht jedesmal ein abfälliges Raunen, wenn ich vorbeischaue, um nachzusehen, wie man dort vorankommt.
    Als die Rollen fertig geschrieben, geschnitten, getrocknet, aufgerollt und mit Bimsstein poliert waren, steckte ich sie in kleine Bronzezylinder, die ich eigens in Pallene hatte anfertigen lassen und die auf der Außenseite ordentlich mit Der Heerführer von Eupolis, Sohn des Euchoros, aus dem Demos Pallene und der Anfangszeile des Stücks beschriftet worden waren, und machte mich auf den Weg zum Haus des Archon. Mein lieber Kallikrates sah, wie aufgeregt ich war, und bot mir seine Begleitung an, aber ich lehnte ab. Ich wollte allein gehen, sogar ohne den kleinen Zeus. Ich fühlte mich wie Theseus, als er sich zum Labyrinth aufmachte.
    Es war schon fast dunkel, und ich hatte schreckliche Angst, Räubern in die Arme zu laufen, die mir wegen der wertvollen Bronzehülsen die Rollen stehlen könnten; aber offenbar fand in dieser Nacht am anderen Ende der Stadt eine große Beerdigung statt, so daß die Straßen verlassen und sicher waren. Ich gelangte an die Tür des Archons und klopfte laut an, um mir selbst Mut zu machen.
    Ein Dienstmädchen öffnete die Tür und fragte, wer zu dieser nachtschlafenden Zeit einen derartigen Lärm veranstalte. Ich nannte meinen Namen und sagte ihr, daß ich den Archon zu sprechen wünsche.
    »Ist es wichtig?« wollte sie wissen. »Er hat Gäste. Sie singen gerade die Harmodioshymne.«
    Der Gedanke, wegzugehen und am nächsten Tag wiederzukommen, war mehr, als ich ertragen konnte, und deshalb antwortete ich: »Ja, es ist sogar sehr wichtig. Du solltest mich jetzt lieber reinlassen.«
    Als ich das Haus betrat, besann ich mich sofort eines Besseren. Was konnte schließlich mehr geeignet sein, den Zorn des Archons zu erregen, als bei ihm hereinzuplatzen, wenn er gerade mit ein paar Freunden trank? Es wäre schon ein Wunder gewesen, wenn er die Rollen von mir entgegengenommen hätte. Ich blickte mich verzweifelt im Raum um. Zu meinem Entsetzen sah ich, daß zu den Gästen, die mich allesamt verdutzt anstarrten, einige der Männer gehörten, die in dem Stück von mir am erbarmungs- und schamlosesten angegriffen wurden. Da war beispielsweise Hyperbolos, neben ihm Kleonymos, der Aasgeier, und Kleon höchstpersönlich, den ich näher kannte und der mich freundlich und aufmunternd anlächelte. Ich brachte stammelnd mein Anliegen vor, stieß dem Archon die Rollen entgegen (aus irgendeinem Grund kann ich mich nicht an seinen Namen erinnern, obwohl mir jede andere Einzelheit der Szene so deutlich ins Gedächtnis eingebrannt ist wie die

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