Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
keine europapolitischen Bomben im Gepäck. Er will Irland nicht neu verhandeln, sondern sagt
pacta sunt servanda
– Verträge müssen eingehalten werden. Es sind keine Brandreden, es geht nicht um die kreative Zerstörung der europäischen Grundordnung, sondern um Weichenstellungen: die Exzesse sowohl der Märkte wie der Merkel’schen Austeritätspolitik vermeiden und in dem schmalen Korridor dazwischen das Leben besser machen.
Nur interessierte das im Februar außer ihm kaum jemanden. Die betroffenen Bürger und Konsumenten der unter den Sparvorgaben leidenden Eurostaaten kennen ihn nicht, und selbst wenn sie ihn kennten, könnten sie ihn nicht wählen. Die Deutschen vertrauen Merkel, und wenn sich die Krise verschärft, trauen sie ihr sogar noch mehr. Die deutschen Journalisten zucken mit den Schultern, und die europäischen Kollegen wollen von ihm auch etwas Konfrontatives über Merkel hören. Das ist immer heikel, denn Steinbrück zitiert gern die Regel, wonach es sich nicht gehöre, im Ausland die Politik der eigenen Regierung zu kritisieren. Wer nach der Quelle dieser Regel sucht, verliert sich schnell im Ungefähren. Sie stammt jedenfalls aus alter Zeit, bevor die Welt zusammenschnurrte. Doch Steinbrück beherzigt sie, und so bleibt es ihm versagt, zum großen Sturm auf die Bundesregierung zu blasen, er bleibt abwägend, präzise und technisch, wie es redlich ist, aber auch langweilig. Und seine Gesprächspartner, die ja auch heute und morgen etwas von der noch amtierenden Bundesregierung wollen, treten nicht mit ihm vor die Presse.
Die Abende werden lang. Niemand regelt den Gesprächsverlauf, alle Fragen sind zugelassen, die Antworten gibt Steinbrück spontan. Als würde er sich einem Tennisballautomaten stellen, als ginge es hier um eine sportliche Herausforderung. Das Thema kommt auf Peerblog, ein Internetportal, in dem die Steinbrückfreunde ihre Sicht des Mannes und seiner Anliegen verbreiten möchten. Angesichts der kommunikativen Desaster der vergangenen Monate eine naheliegende Idee, doch das Portal selbst wird mehr und mehr zum Thema der Kommunikation, denn es ist nicht klar, wer das Geld dafür bereitstellt. Auf diese absolut erwartbare und essentielle Frage kann der Kandidat keine Antwort geben. An jenem Abend aber ist Steinbrück noch stolz auf diese Initiative: »Ich will nicht auf Ihren Onlinedienst angewiesen sein«, sagt er dem Kollegen des »Spiegel«. Es kommen auch Fragen nach den Wohnzimmerbesuchen: Was soll deren politischer Nutzen sein, wenn keine Presse zugelassen ist? Steinbrück sagt, wenn es sich nicht bewähre, dann werde man es eben wieder bleibenlassen.
Manche der anwesenden Journalisten fassen sich an den Kopf: Das besondere, strategische Instrument eines bürgernahen Wahlkampfs basierte vor allem auf dem Wohnzimmerformat, nun wird der Abschied davon sang- und klanglos angekündigt? Der Effekt wäre desaströs. Ebenso hart wird über Peerblog und die ungeklärte Frage der Finanzquellen geurteilt. Ein anderer Kollege gibt achzelzuckend zu bedenken: Wenn sie gar nichts in der Richtung unternommen hätten, würde man sie bezichtigen, das digitale Zeitalter verschlafen zu haben.
Es wird spät und später, die Fragen betreffen nun alle möglichen Themengebiete, Steinbrück weicht nicht aus. Aber er ärgert sich. Irgendwann beginnt er, der »Bild«-Zeitung anhand einiger schlagender Episoden übergriffige Recherchemethoden vorzuwerfen. Nach einer Namibiareise, zu der Steinbrücks Frau die Familie aus den Mitteln einer Erbschaft eingeladen hatte, wartete eine Reporterin des Boulevardblatts am Flughafen und fragte Steinbrück, ob er eine geheime Farm in Namibia besitze. Dem »Spiegel« warf er dann vor, eine Geschichte des Verkaufs einer Wohnsiedlung durch den Bund in seiner Amtszeit als Finanzminister aufgeplustert und sensationalisiert zu haben, mit einer Anfrage am Wochenende und Verpflichtung zu sofortiger Stellungnahme, wobei die Unterlagen dazu alle im Finanzministerium in Berlin lagen. Schließlich kam er wieder auf das Thema Bahncard, als man ihm vorwarf, sie zu nutzen, um zu bezahlten Vorträgen zu fahren. Nun hält er den Journalisten vor, sie hätten doch auch Rabatte beim Kauf einer Bahncard, machten ihm also Vorwürfe, obwohl sie doch selbst Privilegien genössen. Dass die Journalisten im Auftrag von Verlagen, also privaten Unternehmen, agieren und kein durch Wahlen verliehenes und aus Steuern finanziertes Mandat ausüben, darin liegt freilich die prinzipielle
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