Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
des Studiums, feierliche Überreichung der Diplome in Volkswirtschaftslehre. Alle stehen Schlange, der Dekan drückt den Absolventen ihr Diplom in die Hand. Als Peer Steinbrück an der Reihe ist, zögert der Professor: Ich kann Ihnen das Diplom nicht aushändigen, weil Sie gar kein Abitur haben. Sie erfüllen somit nicht die Voraussetzungen für ein Studium und können heute auch kein Diplom erhalten.«
Kurz vor der letzten Sitzungswoche beschleunigte sich das Abwärtstrudeln immer schneller: Der Sprecher Michael Donnermeyer wurde abgelöst, es kam zum offenen Streit zwischen Vorsitzendem und Kandidaten, der über den »Spiegel« ausgetragen wurde. Das ist für die Sozialdemokratie schon ein ziemlicher GAU ; Solidarität und Verschwiegenheit sind traditionelle Tugenden. Aber vielleicht passen sie nicht mehr in die Zeit. Die Legende von der Troika war zu einer glatten Politbürolüge verkommen. Der Konflikt zwischen Steinmeier und Gabriel war Stoff für lange Artikel, und auch zwischen Kandidat und Vorsitzendem herrschte ein böser Frust, den es womöglich gar nicht gegeben hätte, wäre ihnen etwas mehr Erfolg beschieden gewesen – der sich womöglich eingestellt hätte, wenn beide nicht so frustriert gewesen wären. Es gab eine Sendung mit Maybrit Illner, in der sich Steinbrück ohne jede Gegenwehr verprügeln ließ.
So konnte der Beobachter nur die letzten Abwärtsbewegungen beobachten und einen bösen Aufprall ahnen. Der kam am 16 . Juni um 13 . 15 Uhr.
Es war ein Moment, der alles veränderte, und stellte abermals einen Durchbruch nach unten dar: Hätte es zwei Dinge gegeben, die Peer Steinbrück zu Beginn seiner Kandidatur ausgeschlossen hätte, von einer Koalition mit der Linken einmal angesehen, dann erstens, mit seiner Frau zusammen Wahlkampf zu machen, und zweitens, öffentlich zu weinen. So begann mit dem von Bettina Böttinger moderierten Gespräch auf dem Parteikonvent der SPD in Berlin ein neues Kapitel. Jede Komfortzone war nun verlassen, Vergleichbares kennt die deutsche Politik nicht.
Die Tränen hatten drei Ursachen: Zum einen realisierte Steinbrück, was er seiner Familie zugemutet hat, in der Hybris, das zu »wuppen«, zur Not eben auch ohne deren Unterstützung. Dann, dass er dennoch von ihr unterstützt wurde. Drittens aber, und ausgerechnet dies spielte in der anschließenden Berichterstattung interessanterweise gar keine Rolle, die von Frau Steinbrück aufgeworfene Frage nach der Motivation des Kandidaten. Denn im Zirkus spielte nur die Performanz eine Rolle, das Tempo, die grobe Komik der immer neuen Pannen und eine möglichst knallige Begleitmusik. Es interessierte aber kaum jemanden, ob die Politik, die er machen würde, vielleicht gewisse Vorzüge hätte gegenüber der jetzigen. Ob sich das Leben der Menschen nicht verbessern würde, in Europa und auch hierzulande, wenn die Nuancen einer weitsichtigeren, sozialeren Politik realisiert würden, danach fragte niemand, es rechnete niemand durch. Würde Martins Start in der Gesellschaft nicht freundlicher ausfallen, wenn man ihn nicht gleich zu Beginn seiner Berufslaufbahn ausnimmt, sondern wenn er den Eindruck gewinnt, dass die Regeln dazu da sind, sein Leben zu erleichtern? Und weil gar nicht erst diskutiert wurde, ob dies einen Unterschied bedeuten könnte, weil die Illusion suggeriert wurde, es komme ohnehin nicht darauf an, achtete niemand auf diese Punkte, und man brachte sie nicht mit Steinbrück in Verbindung. Zwar möchten alle immer den politischen Personenkult beenden, aber in der Aufmerksamkeitsökonomie lassen sich Sachfragen fast nur im Medium einer Figur erörtern. Das nutzte der Kanzlerin. Die Leute konnten den Eindruck bekommen, Politik folge Naturgesetzen, und die besagten, dass Merkel Kanzlerin ist und bleibt. Perfekt formulierte dies eine der begabtesten Politikerinnen unserer Zeit, die Arbeitsministerin Ursula von der Leyen. Sie stellte fest, in Deutschland habe jede Generation ihren Kanzler, und nun sei es Angela Merkel. So wurde die Führung der Regierung auf eine sehr suggestive Weise mit dem Analogiefeld der Forstwirtschaft in Beziehung gebracht: Eine Generation von Setzlingen hat diese eine Försterin und kann sie gar nicht abwählen, sondern sie geht, wenn wir Pflanzen groß oder tot sind, irgendwann in Pension.
Verblüffend war auch, dass Merkel gar keinen politischen Preis für die Ausweitung ihrer Kampfzone nach links zahlen musste. Über die Parteigründung AfD etwa wurde nirgends groß berichtet.
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