Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
entworfenen Wahlkampf zu erleben. Ihm würde passenderweise eine möglichst gewinnende, zeitgemäß moderne und telegene Figur vorstehen, ein Kandidat aus dem digitalen und demoskopischen Labor. Doch das Neue kam nicht in der erwarteten Gestalt eines mediengestützten Frontmanns, etwa eines großen Wirtschaftslenkers, Sportlers oder Schauspielers. Das Neue war auch nicht die unerschütterliche Beliebtheit der Kanzlerin bei schwindendem Personal und nichtexistenter Programmatik, sondern die schlagartige Verwandlung der Opposition in ein politisches Geisterschiff. Steinbrück reiste durch Deutschland, die Fernsehstudios, die kleinen Hallen wie der fliegende Holländer – ein Spuk, der nicht mehr in unsere vernünftige Zeit passte, eine Alternative in alternativlosen Zeiten, ein Akrobat in der Zeit der dreidimensionalen, computergenerierten Unterhaltung – überflüssig bis gruselig.
Gerade Journalisten schienen es kaum erwarten zu können, bis er wieder dorthin verschwinden würde, woher er gekommen war. Und zu den Wählern, den Befragten sprang kein Funke über, schlimmer noch: Ein negativer Filter verwandelte jede Regung, auch solche, von denen die Wähler in Umfragen behaupteten, sie würden sie eigentlich schätzen, in krasse Peinlichkeit. Es schien, als habe sich die Gesellschaft, das Land, unmerklich gewandelt und diese Wahl würde es an den Tag bringen. Irgendetwas war vor sich gegangen, und die SPD hat es definitiv verpasst.
Was war hier eigentlich los?
Man benötigte zur Deutung des Geschehens die Perspektive einer anderen Profession. Dieser ganze Komplex war längst zum Thema für Psychologen geworden. Nur aus einer seelenkundlichen Perspektive waren die Blockaden, Verdrängungen und Komplexe zu deuten, die die politische Dynamik dieses Jahres bestimmten. Die politischen Journalisten konnten ihren Lesern wenig mehr als ratlose Nacherzählungen bieten, waren sie doch oft genug selbst mit der SPD und deren Protagonisten in einer dysfunktionalen Familienaufstellung platziert.
Ich fragte stattdessen den Psychologen Stephan Grünewald, Autor von »Deutschland auf der Couch« und »Die erschöpfte Gesellschaft« und Leiter des Kölner Instituts »rheingold«. Dort werden zu Studien- und Marktforschungszwecken etwa 7000 Personen jährlich in Tiefeninterviews befragt, fast 200 Studien werden erstellt. Untersucht werden alle Komplexe der Weltsicht und Lebensführung, nicht in therapeutischer, sondern in kommunikativer und analytischer Absicht. So erstellte Grünewald im Laufe der Jahre ein einzigartiges Panorama des deutschen Innenlebens, in dem er mal die individuelle, mal die soziale Gesamtperspektive in den Fokus nehmen konnte.
Grünewald saß nicht dauernd in Talkshows, sondern hielt einen gewissen Abstand zum Zirkus, aber eine Nähe zum Gegenstand. Und wie um die Distanz, aus der er sich sein Urteil bildete, noch zu akzentuieren, traf es sich, dass ich ihn während eines längeren Aufenthalts in San Francisco erreichte, wir sprachen also per Skype über Deutschland. Die Verbindung war nicht perfekt, es knirschte und zerrte, was seinen Worten etwas orakelhaft Suggestives verlieh.
Grünewald wählt einen ganz anderen Ausgangspunkt als die meisten anderen Deuter der Lage. Für ihn war das Land nicht der kraftstrotzende Vizeexportweltmeister, der blendend dasteht in einem Raum voller matter Patienten, sondern eigentlich ein noch schockiertes, ein von der seit Jahren andauernden Krise und dem anhaltenden, doppelten Wandel durch Digitalisierung und Globalisierung traumatisiertes Land. In den Äußerungen der von ihm Befragten, aber auch in seinem privaten Umfeld herrsche das Gefühl vor, die Kultur der permanenten Maximierung von Waren, Dienstleistungen und Arbeitskraft sei an ein Ende gekommen. Vor lauter Effizienzdenken und -steigerung habe man den roten Faden verloren, sowohl individuell wie gesellschaftlich. Dieses Gefühl wirke aber nicht inspirierend und emanzipatorisch, sondern beängstigend und lähmend. »Die Leute fragen sich, was an die Stelle dieses turbokapitalistischen Systems treten soll, in dem die Krise der neue Normalzustand geworden ist.« Es herrsche, so fasste Grünewald seine Eindrücke zusammen, nicht der Wunsch nach Befreiung, sondern zunächst einmal »eine Grundstimmung von Ohnmacht und Angst«. Die Menschen blickten in ein »schwarzes Loch« und reagierten darauf mit dem Wunsch nach verlässlichem Beistand. Dass sie den nun bei der Kanzlerin fänden, habe sowohl
Weitere Kostenlose Bücher