Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
individualpsychologische wie familiensoziologische Gründe.
Viele seiner Gesprächspartner, so hat Grünewald festgestellt, haben in den Nachkriegsjahren und selbst später einen schwachen Vater erlebt, einen Mann, auf den wenig Verlass war. Der Vater war oft oder sogar ganz abwesend und wusste selbst nicht, wohin mit sich und schon gar nicht mit den Kindern. Diese Erfahrung wirkt fort, heute ist das Misstrauen gegenüber solchen Figuren gerade in der Politik sehr ausgeprägt. Und die letzten Jahre haben gezeigt, dass solche Ängste begründet waren. Gleich zwei Mal hintereinander war ein Bundespräsident zurückgetreten –, im deutschen politischen System qua Amt eine geliebte, wenn nicht verherrlichte Figur und die Symbolisierung des modernen pater patriae. Das hatte es noch nie zuvor gegeben. Auch ein von vielen als charismatisch wahrgenommener Erneuerer, von manchen gar als Erlöser begrüßt, Karl-Theodor zu Guttenberg, konnte sich nicht halten. Er versank in der von ihm selbst errichteten akademischen Kulisse, übrig blieb der Stoff für Komödien und bei den Wählern ein dummes Gefühl: Der, der so ganz anders zu sein vorgab, unabhängig und ehrlich, gerade der hat uns hinters Licht geführt.
Von der politischen Bühne abgetreten sind auch die Frontmänner einer ganzen Nachwuchsgeneration der Union aus dem sogenannten Andenpakt, sie folgten mit etwas Abstand dem Beispiel der rotgrünen Helden von Joschka Fischer über Otto Schily zu Wolfgang Clement.
Sie alle haben etwas anderes, etwas Befriedigenderes und Lukrativeres gefunden als den Dienst an den Deutschen und bestätigten damit exakt, einer nach dem anderen und sicher ohne es zu ahnen und schon gar nicht zu wollen, das Vorurteil der Wähler gegenüber politischen Vaterfiguren in postmodernen Zeiten.
Und wie um diesen Prozess noch dem Begriffsstutzigsten deutlich zu machen, verkündete auch der deutsche Papst seinen Rücktritt, das hatte es in vielen Jahrhunderten nicht gegeben.
So ging also selbst der Heilige Vater fort, es waren keine guten Zeiten für Landes-, Kirchen- oder Hausväter. Und Angela Merkel ist vor dieser Folie ganz einfach das: die, die bleibt. Für die Öffentlichkeit führt sie, so Grünewald, »ein nahezu zölibatäres Leben«. Sie ist stets und ganz da, ohne sich zu beschweren oder zu stöhnen, sie könne sich Besseres einfallen lassen. Ihr Ehemann, so Grünewald, »verschwindet wie eine Creme«. Merkel opfert sich mit Leib und Seele auf und strebt weder Geld noch andere Ämter an, sie, so die Einschätzung der von Grünewald befragten Deutschen, spielt die Rolle eines »nationalen Rettungsengels«, und ihre Botschaft ist: »Ich lasse euch nicht fallen.« Sie spaltet nicht, polarisiert nicht, startet keine Kampagnen gegen Landsleute.
In der Krise wächst sich der ohnehin schon starke deutsche Wunsch nach Gemeinschaftlichkeit und konsensualer Politik zu einer regelrechten Harmoniesucht aus, die von Merkel perfekt bedient wird.
Alle Punkte, die in der aktuellen deutschen Gemütsverfassung für die Kanzlerin sprechen, könnte, wenn man Grünewalds Befunde akzeptiert und weiter denkt, in der Rolle des Kanzlers auch Peer Steinbrück befriedigen: Ein Politiker am Ende seiner Karriere, der einiges aufgegeben und den Wahlkampf als regelrechtes Martyrium durchgestanden hat. Doch um dahin zu gelangen, war er in der ungünstigsten Position. Er werde, so Grünewald, als jemand beschrieben, der noch an sich arbeite, der »sich selbst noch optimiert«. Die Leute sehen nichts Väterliches in ihm oder wenn, dann höchstens das Sprunghafte und Unberechenbare. Man sieht einen Vater, der plötzlich zu Hause wieder eine Rolle spielen möchte, nachdem ihm zuvor an seinem eigenen guten Leben gelegen war.
Seine frühere gute Arbeit als Bundesfinanzminister geriet ihm aus dieser Perspektive sogar eher zum Hindernis, denn es gab, in der beschriebenen Gemütsverfassung wenig verwunderlich, eine große Anhänglichkeit an die Zeit der großen Koalition. Steinbrück wurde als der perfekte Partner der Bundeskanzlerin wahrgenommen, beide bildeten ein ideales Paar. Darum konnte er, wenn er sie angriff, was, nach Lage der Dinge und dem Gang des Wahlkampfs die einzige Option war, vielleicht ein wenig bei den eigenen Leuten punkten, aber in der breiten Bevölkerung kommt er damit nicht weit: »Er wirkt damit so sympathisch wie einer, der eine allein erziehende Mutter angreift«, deutete Grünewald die Wahrnehmung.
Letztlich, daran erinnern uns Grünewalds
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