Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
Wenn sich auf der rechten Flanke der Unionsanhänger ein Gefühl der politischen Heimatlosigkeit eingestellt haben sollte, dann bekam es kein mediales Echo. Nichts deutete darauf hin, dass die ewige Kanzlerschaft womöglich am Wahltag durch eine zu geringe Mobilisierung der eigenen Anhänger gefährdet sein könnte – ein Szenario, das gar nicht so phantastisch war, hatte Merkel doch schon 2005 eine solche Überraschung erlebt.
Die Tränen des Kandidaten waren, wenn man Steinbrück kennt, eine echte Wegmarke. Wenn dies möglich war, musste man nun mit allem rechnen. Das Echo in der Presse war nicht günstig, man jammert sich nicht ins Kanzleramt, hieß es da.
Gerade als man dachte, alle quälenden Momente dieser Phase seien durchlitten, wartete noch eine letzte Traditionsprüfung auf den Kandidaten, der mehr und mehr herausgefallen war aus den Üblichkeiten eines SPD -Wahlkampfes.
Zu dessen Gepflogenheiten gehört nämlich eine Begegnung mit Günter Grass. Der Literaturnobelpreisträger ist zwar kein Genosse mehr, aber er schrieb mal für Willy Brandt und hat die Kultur des Milieus geprägt wie kein Zweiter. Schnecken, Pilze, Linsen, dazu Cordanzüge, Pfeife und Rotwein, das Handwerkliche, vieles an der Lebenspraxis von Grass wurde von Genossinnen und Genossen übernommen. An jenem Abend sollte es um die Briefe gehen, die sich Grass und Brandt geschrieben hatten, sie wurden von Schauspielern vorgetragen, dann gab es einen von Wolfgang Thierse moderierten Talk zwischen Grass und Steinbrück. Wie immer stand der Willy aus Bronze daneben und überschattete alles und jeden. Man sah aber, wie weit sich Steinbrück dem ganzen Zauber entzogen hatte. Er legte keine besondere Nähe zum alten Schriftsteller an den Tag und widersprach ihm sofort, als der die Bundeswehr eine Söldnerarmee nannte. Und einmal, als Grass eine Art Verschwörung skizzierte, wie jüngere Autoren, die ihn besuchten, in der FAZ prompt verrissen würden, da bog sich Steinbrück vor Lachen, als halte er den ganzen verlogenen und selbstbezüglichen Wahnsinn einfach nicht mehr aus.
Am nächsten Morgen stand er im Deutschen Bundestag und tat etwas, das er kaum je zuvor getan hatte: Er attackierte die Bundesregierung frontal. Und es gefiel.
7 Das Problem
Der längste Tag kam und ging, nichts hatte sich gedreht außer dem Wetter, es wurde richtig schlecht. Gemäß den Umfragen wurde eine Fortführung von Schwarzgelb wieder für möglich gehalten.
Selbst der manifeste Skandal nach der Aufdeckung des umfassenden digitalen Abhörprogramms durch amerikanische und britische Geheimdienste, auf den die Bundesregierung mit einer hochkomischen Inkompetenz reagierte, brachte keinen Stimmungsumschwung. Zwar hatte die Kanzlerin erstmals seit Bürgergedenken keine gute Figur bei einer Pressekonferenz gemacht, als sie ihre Zuständigkeit und Kompetenz dauernd minimierte und sich vor der Welle der Empörung einfach wegduckte, aber in den Umfragen schlug sich das nicht nieder. Merkel hatte sich auf die Linie zurückgezogen, in Deutschland und an Deutschen würden solche Abhör- und Abschöpfmethoden nicht geduldet, aber schon jede einfache Daten»cloud« war ja, wie ihr Name verrät, weder deutsch noch auf deutschem, noch sonst irgendeinem Boden. Und die Abhöranlagen der amerikanischen Dienste standen auf amerikanischem Militärgelände, das quasi exterritorial war. Die Kanzlerin hatte – wieder einmal – ihre Macht als sehr begrenzt dargestellt, begrenzter als sie war. Damit sollten Erwartungen minimiert werden, ihre Statur aber umso größer wachsen. Darin lag ein gewisses Risiko, es hätte sein können, dass die Bevölkerung von einer Empörung erfasst würde wie gelegentlich vor Volkszählungen. Aber nichts dergleichen geschah.
Eher verunsicherte die Verunsicherung der Bundeskanzlerin die Deutschen, dies umso mehr, als sie stets versicherte, alles im Griff zu haben. Und Verunsicherung hat noch immer der amtierenden Regierung in die Hände gespielt.
Es war, als würde eine unsichtbare Wand den Kandidaten von seinen Themen, seinen Wählern und seiner Partei trennen. Alle waren ratlos, einen solchen Wahlkampf hatte es noch nicht gegeben. Man hatte das nicht kommen sehen: Es war eine einzige Demonstration der Irrelevanz der demokratischen Alternative.
Seit Colin Crouchs Buch »Postdemokratie« war man darauf vorbereitet gewesen, auch in Deutschland einen inszenierten, von professionellen PR -Teams nach eingehender demoskopischer Vorbereitung zielgenau
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