Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
Interpretationen, sind es nicht oberflächliche, durch Agenturen erzeugbare »Optiken«, die einen Kandidaten definieren, sondern tiefere, in der Kultur und den persönlichen Lebensgeschichten verankerte Bilder, die die Weltsicht und damit das Urteil der Wähler prägen.
Der Wunsch nach Geborgenheit und Verlässlichkeit bewegt auch viele Anhänger der Grünen, dabei folgen sie aber weniger bestimmten Personen, sondern mehr dem Gefühl, im Einklang mit natürlichen Rhythmen zu sein, dem zu folgen, was die Natur vorgibt und braucht. Etwas aber ist in der nationalen Imagination chronisch unterentwickelt, meint der Psychologe, und das ist die Toleranz gegenüber nicht kontrollierbaren Zuständen wie dem Traum, dem Rausch oder persönlichen Metamorphosen: »Das Anderssein ist heute fast schon Normalität, das Anderswerden hingegen wird nur schwer geduldet.« Zweifel, Kritik, Zögern und Zaudern, all die Stufen, die einem Wandel, einer Neuausrichtung vorausgehen, werden als störend und irritierend empfunden. Auch hier herrscht eine digitale Doppelklick-Mentalität, jeder Zustand soll von Dauer, aber in derselben Sekunde schon herzustellen sein.
Insofern war auch der Gefühlsausbruch, waren die Tränen des Kandidaten auf dem Parteikonvent eher eine Irritation. Man hätte sie als Alarmsignal an die intellektuelle Wachsamkeit der Leute empfinden können, denn es ging ja um ausbleibende Fragen: Warum interessierte sich niemand dafür, was Steinbrück eigentlich will, welche Auswirkungen seine Politik hätte. Aber das blieb aus, auch dieser ungewöhnliche Vorfall wurde allein in Bezug auf das, was sie von der Person wussten, interpretiert, auf das, was es in der Unterhaltungsdisziplin Kanzlerduell bedeuten könnte, nicht auf den größeren Rahmen.
Es passte gar nicht ins Bild, dass sich die Leute von Steinbrück gemacht hatten. Insofern unterstrichen seine Tränen eher das Gefühl einer gewissen Unberechenbarkeit. In der Krise sehnen sich die Deutschen aber nach Konstanz und Stimmigkeit, da wirkt solch eine Kapriole verwunderlich. Sie verweist auf eine Unfertigkeit, einen Prozess des Werdens, den die Wähler schlecht aushalten, sie fühlen sich oft genug ja selbst unsicher und unfertig.
Grünewalds Forschungsergebnisse, seine Deutung der Lage erinnern daran, dass mehrere Komponenten das politische Urteil der Wähler bilden. Im Journalismus betrachten wir nur eine davon: die Aktualität, die Umfragen, die Konstellation der handelnden Personen einer Woche. Und oft genug ist es vor allem das, was die Kollegen der anderen Medien auch finden. Doch die meisten Menschen sind keine professionellen Politikbeobachter. Sie stellen sich keine Sonntagsfrage. Sie wissen, dass am nächsten Sonntag keine Wahl ist, und müssen es sich eigentlich auch nicht immerzu vorstellen. Das Leben ist unübersichtlich genug, Politik soll als eigenes Subsystem weitgehend funktionieren und nur in nötigen Fällen mit uns kommunizieren. Und wo sie auch das versäumt, siehe Stuttgart 21 , oder einen eigentlich lösbaren Auftrag wie den Bau eines Flughafens nicht schafft, hagelt es Proteste und Spott.
Wesentlich zur Beurteilung des Wahlkampfs und der Lage des Landes war Grünewalds Eingangsvoraussetzung, nämlich dass wir es in Deutschland mit einer »erschöpften Gesellschaft« zu tun haben. Und diese Erschöpfung ist, wenn man es einmal schärfer analysiert, das Resultat politischer Entscheidungen. Die Mitte der Gesellschaft fühlt sich an den Rand gedrängt, so schnell dreht sich die Welt, und es gibt keine Pause und kein Pardon.
Das späte neunzehnte Jahrhundert war das Zeitalter der Neurasthenie, wir leben in Zeiten des Burnout. Egal, ob man von der medizinischen Korrektheit des Begriffs überzeugt ist oder nicht, ob man also die vielfältige und diffuse Symptomatik als spezifische Krankheit anerkennen möchte oder nicht, der Begriff aus der vormodernen Kerzenzeit bezeichnet eine Phänomenologie, die jedem intuitiv verständlich ist. Er gehört zu jenen Geräten unseres Welterklärungswerkzeugkastens, die uns heuristisch weiterhelfen, auch wenn wir gar nicht genau verstehen, wie sie en detail funktionieren. Es vergeht kein Tag, an dem nicht ein Artikel über Burnout in Zeitungen und Magazinen erscheint.
Dabei wird er immer als ein privates Problem besprochen, werden gute Ratschläge zu seiner Vermeidung oder Linderung gegeben, die alle auf der Ebene der persönlichen Lebensgestaltung liegen. Zauberformeln werden offenbart: Work-Life-Balance und
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