Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
nämlich zu verhindern, dass auf den Zusammenbruch der DDR -Wirtschaft auch ein sozialer Absturz folgte, die Notwendigkeit der Reform dieser Systeme. Heute wird Deutschland wegen der Maßnahmen der Agenda 2010 bewundert.
Die Arbeitslosigkeit, Geißel sämtlicher Familiendiskussionen aller, die ein geisteswissenschaftliches Studium wählten, hat ihren Schrecken verloren. Doch diese historische Umstellung wurde abermals nicht vom Besitz der Deutschen bezahlt, sondern von jenen, die auf Ansprüche auf Statussicherung etwa in der Arbeitslosenhilfe, die nach dem letzten Gehalt berechnet wurde, verzichteten und sich in den Dschungel der prekären, befristeten und mies bezahlten Beschäftigungsverhältnisse begaben. Dass sie davon nicht begeistert waren, steht auf einem anderen Blatt.
Einheit und Agenda, die beiden großen historischen Leistungen, die das heutige Deutschland gestaltet haben und es in der Krise schützen, wurden von Arbeitern, Angestellten und Verbrauchern im mittleren bis geringen Einkommensbereich bezahlt.
Und die Bedingungen, unter denen all das Geld erwirtschaftet werden muss, haben sich empfindlich verändert. In den Zeiten, in denen noch wirkliches Wirtschaftswachstum erarbeitet und der Ruhm der deutschen Nachkriegsindustrie begründet wurden, war es selten, dass der Chef nach Feierabend noch anrief. Es gab einen Programmschluss im Fernsehen, und selbst die Börsen funktionierten wie Behörden, interessierten auch nicht weiter. In der Satirezeitschrift MAD wurden unendliche Witze über Ärzte gemacht, die mit dem »Pieper« auf den Golfplatz gingen, um sich durch die Zurschaustellung des seltenen Geräts irgendeinen albernen Vorteil zu verschaffen. Der Arbeitsplatz war eine Art soziokulturelles Habitat, in dem man sich einrichten und leben konnte, und keine Hölle der permanenten Optimierung. Das Recht der Firma war nicht absolut, sondern wurde gegen eigene Interessen abgewogen. Die Leute hatten Hobbys, verlangten Arbeitszeitverkürzung, und wer auch mal halblang machte, galt als schlau, nicht als Verräter am Bruttosozialprodukt, das unter solchen Gegebenheiten übrigens florierte.
Heute machen selbst und gerade die Betreiber von systemgastronomischen Kaffeehausketten oder Franchisenehmer von T-Shirt-Herstellern aus dem Commitment für das Unternehmen eine Privatreligion. Der Job wird zur Mission, die Firma zur Sekte. Mehr als der ganze Mensch ist gefragt am kundenorientierten Arbeitsplatz. Digitale Erreichbarkeit rund um die Uhr wird schon bei mittleren Lohnstufen erwartet und natürlich eine lebenslange und frenetische Selbstoptimierung. So muss der oder die Angestellte stets mehr geben als die Arbeitskraft in der Arbeitszeit, sie müssen Jünger der Firmenmission werden und Propheten der Produkte. Die, während man sie hysterisch feiert, qualitativ nicht unbedingt besser werden. So macht die Arbeit gerade jene krank, die von ihren Abzügen die historischen Lasten des Landes in überproportionalem Umfang bezahlen müssen.
Und warum soll die dritte historische Herausforderung unserer Zeit, die Euro-Krise, anders gelöst werden als die beiden schon erwähnten? Die nun schon vier Jahre währende Krisenbewältigung ermüdet uns besonders, weil sie keinen Fortschritt erkennen lässt, uns nur längere Monologe zumutet. Es gibt durchaus Beispiele für frischere, mutige Wege: In Island wurden die Pleitebanken verstaatlicht, aber nicht deren Schulden. Die Gläubiger mussten sie abschreiben, die Verschuldung der öffentlichen Haushalte blieb vom Wahnsinn der Banker unbehelligt. Dennoch hat sich Island schneller erholt als andere Länder, die unter der Doppelbelastung von Schuldendienst und Sparprogrammen noch Jahrzehnte leiden werden. Die Märkte kaufen nun wieder mit Vergnügen isländische Anleihen, denn die Insel ist ja ihre kranken Banken losgeworden, nun kann sich die Wirtschaft erholen. Auch solch forsches Handeln imponiert Anlegern. Märkte sind zwar sensibel, aber nicht sentimental. Hierzulande würden eher die Lobbyisten der Finanzindustrie und die von ihnen mobilisierten Sparer solch ein Vorgehen unmöglich machen, die Furcht vor finanzieller Instabilität ist in Deutschland tief verankert. Diese Rezeptoren kann man sich in nahezu jeder politischen Lage zunutze machen, und auch wenn die tatsächliche Reichtumsentwicklung dazu gar keinen Anlass gibt, wird es immer Zustimmung geben, wenn wieder jemand fordert: Jetzt schnallen wir alle den Gürtel wieder enger. Das ist ein ganz altes und
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