Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Titel: Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nils Minkmar
Vom Netzwerk:
Entschleunigung, digitale Abstinenz und Fokussierung auf das Wesentliche. Als wäre das so einfach. Burnout wird einerseits in all seinen dramatischen und zerstörerischen Konsequenzen beschrieben, als eine Krankheit die lebensbedrohlich ist, die »Kassen Milliarden kostet« und unbedingt ernst zu nehmen ist, die Mittel dagegen aber sind immer rein privat. Als würde man den Arbeitern einer Asbestfabrik empfehlen, zu Hause besser Staub zu wischen, um ihre Lungen vor Krebs zu schützen.
    Das Syndrom, das wir mit dem Bild vom Ausgebranntsein beschreiben, also das Empfinden, müde zu sein, ohne auf Erholung hoffen zu können, und für die Mühen statt eines angemessenen Lohns nur noch mehr Mühen erwarten zu dürfen, ist keine Privatsache, sondern ein gesellschaftliches, ein ökonomisches, ideologisches, kurz: ein politisches Problem. Es ist das Resultat gut zu identifizierender Entscheidungen und einer seit Jahrzehnten propagierten Ideologie. Diese Müdigkeit ist ein politisches Gefühl.
    Sie befällt oft jene, die von einem Lohn oder einem Gehalt leben, die ihre Familie hier haben und nicht einfach wegziehen können, die gemeldet und vielfach registriert sind, deren Einkommen stets transparent ist und deren Steuern und Abgaben direkt einbehalten werden. Es ist dabei gar nicht mal so entscheidend, wie hoch das Gehalt ist, es ist diese Art des Einkommens, das überproportional belastet wird, sowohl systematisch wie historisch. Bis es kaum noch etwas vermag. Wer sich an die siebziger und achtziger Jahre erinnert, kann ermessen, wie stark der Wandel ist: In der alten Bundesrepublik waren beispielsweise Universitätsprofessoren sehr gut situiert bis wohlhabend, auch ohne Drittmittel einsammeln zu müssen wie die Eichhörnchen im November ihre Nüsse.
    Eigenheim, studierende Kinder, sogar noch eine kleine Kunstsammlung oder seltene Bücher – das alles wurde im Wesentlichen von einem guten Professorengehalt getragen. Und wer wusste schon, was ein Politiker verdient? Schon die Diäten reichten, um ein gutbürgerliches Leben zu führen. Löhne und Gehälter konnten einfach mehr. Taxifahrer erzählen oft davon: Eine Rentnerin mit einer monatlichen Rente von 2000 D-Mark war gutsituiert und konnte Taxi fahren. Heute kommt sie mit tausend Euro nur dann über die Runden, wenn die Mieten, Nebenkosten und Krankenkassenbeiträge durch einen glücklichen Zufall genug übrig lassen.
    Der Wert des Eigentums an Wertpapieren, Immobilien, Edelmetallen, auch Kunstwerken und Weinkellern ist in derselben Zeit exponentiell gewachsen. Vermögen hat sich schneller vermehrt als Löhne und Gehälter, kein Vergleich. Besonders deutlich ist das in den Vereinigten Staaten: Im Jahr 1992 besaßen die oberen zehn Prozent etwa zwanzigmal so viel wie die ganzen unteren fünfzig Prozent. Im Jahr 2010 war es fünfundsechzigmal so viel. Das Vermögen wuchs, obwohl in der Zeit zwei Kriege zu bezahlen waren. Sie wurden durch Schulden finanziert, der Staat verarmte. Banken und Versicherungen errichten selbst in der Provinz ansehnliche Paläste, wärend man die öffentlichen Bauten in einer Straße an ihren abblätternden Fassaden und rostigen Geländern erkennt. Die Entwicklung ist überall ähnlich.
    Vermögen leistet nur einen unverhältnismäßig geringen Beitrag zur Finanzierung der gemeinsamen Lasten. Das hat System, ein Versuch, es anders zu machen, scheiterte derzeit schon an ganz praktischen Belangen: Welches Finanzamt hat schon die Möglichkeit, die Angaben von Sportlern, Showstars, Künstlern, Unternehmern oder Erben zu prüfen? Unser System hat die Arbeit belastet, um Gesundheit, Alterssicherung und sozialen Zusammenhalt zu bezahlen. Sie wurde auch immer dann herangezogen, wenn es galt, historische Umwälzungen zu meistern.
    Kein Ereignis hat unser Land in unserer Zeit stärker und zum Guten geprägt als die deutsche Einheit. Doch deren stolze Kosten – ohne Ironie, wir können stolz darauf sein, das bezahlt zu haben – wurden nicht von Kapital und Arbeit gleichermaßen getragen, sondern in überwiegendem Maße von jenen, die Beiträge in die Rentenkassen und die Arbeitsagenturen (damals Arbeitsämter) zahlen. Die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« bilanzierte: »Arbeitnehmer mit einem sozialversicherungspflichtigen Einkommen zwischen 3500 und 6000 Euro waren die Hauptfinanciers der Einheit.« Auf die Einheit folgte, nachdem die Sozialsysteme mit Vorruhestandsplänen, Umschulungen und AB -Maßnahmen ihre historische Funktion erfüllt hatten,

Weitere Kostenlose Bücher