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Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Titel: Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nils Minkmar
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wirkmächtiges, kommunitaristisches Erbe, das seit der Reformation ein untrennbarer Teil der deutschen politischen Kultur ist: Wir alle ist der bevorzugte politische Akteur. Das ist gut, wenn man damit Polarisierungen und innere Feindschaften unterdrücken kann, es behindert, wenn es verschleiert, dass Lasten und Vermögen krass ungleich verteilt sind. Aber selbst die, die wenig haben, fühlen sich gehemmt, Ansprüche geltend zu machen, wenn sie in Dauerschleife hören, die Zeiten seien schlecht, wir alle müssten uns beschränken. Bloß bedeutet das für viele der vermögenden Deutschen vielleicht den Verzicht auf eine von vielen Reisen oder die spätere Anschaffung einer elektronischen Neuerung, für ärmere jedoch den Verzicht auf essentielle Güter wie Bildung und Gesundheit und Sorglosigkeit oder einfach, ihren Kindern mal das Meer zu zeigen.
    Wir alle ist eine urdeutsche Formel, die sogar in Familien zu Verschleierungsoperationen taugt. Ein Freund hatte von Jugend an den Eindruck, in einer armen Familie aufzuwachsen. Es hatte ihn nicht besonders gestört, er kannte viele, denen es ähnlich ging, und hatte nette Geschwister. Er empfand es als normal, nicht in die Ferien zu fahren, wenig zu besitzen oder geschenkt zu bekommen, und hielt etwa den Besuch eines Restaurants für Luxus, der anderen Familien vorbehalten war. Doch weil es der Selbstbeschreibung der Familie entsprach, nahm er diese soziale Platzierung auch mit gutem Willen an. Später erst dämmerte ihm, dass ja gar nicht alle in der Familie gleichermaßen arm waren. Der Vater pflegte eine Leidenschaft für teure Waffen und nahm schon mal Kredite auf, um besonders schöne Stücke zu erwerben. Die Mutter wiederum rüstete den Park der Haushaltselektronik nach ganz anderen wirtschaftlichen Leitsätzen auf als denen, die galten, wenn es darum ging, die ganze Familie als arm zu definieren. Es war gar nicht so, dass der Freund dies seinen Eltern nicht gegönnt oder kein gutes Verhältnis zu ihnen gehabt hätte, er amüsierte sich aber über die taktische Verwendung des Bildes von der armen Familie. Selbst eine arme Familie hatte ihre reichen Oasen, in diesem Fall den Schrank mit den Manufakturgewehren. So läuft es heute in ganz Europa: Wir steigen ab, die Globalisierung fordert uns heraus, der Chinese begnügt sich mit Reis und schläft nie – die kollektive Einschüchterung verhindert eine genauere Diskussion der Lastenverteilung. Und wie in der Familie greifen sehr starke moralische Hemmungen: Soll ausgerechnet ich aus der Gemeinschaft ausscheren und Ansprüche stellen, wo sich doch alle so anstrengen? Und der ganze Kontinent arm, alt und hinten dran ist?
    Doch Europa ist kein verarmender Erdteil, sondern, wenn man das Pro-Kopf-Vermögen betrachtet, einer der reichsten der Welt. Bloß steht dieses Vermögen zur Bewältigung gemeinsamer Aufgaben nicht zur Verfügung, es ist nicht einmal zu lokalisieren, denn fiskalisch ist Europa eine Kulisse mit Tapetentüren: Das Industrieunternehmen ArcelorMittal, welches in Frankreich und Deutschland Stahlwerke betreibt, zahlt seine Steuern in Luxemburg. Gérard Depardieu und andere reiche Franzosen entdecken, kaum dass die sozialistische Regierung die Vermögen besteuern will, ihre innere »Belgitude« und ziehen in ein Dorf hinter der Grenze. Jede deutsche Krankenschwester wird für die Griechen zahlen, aber das größte griechische Unternehmen, ein Getränkeabfüller, verlegt mitten in der Krise seinen Sitz nach London. Auch wenn sie mühsam und in kleinen Schritten reguliert werden: Legendäre Fluchtburgen für große Vermögen sind mitten in Europa entstanden, gehegt und gepflegt worden: Das Geld in die Schweiz, nach Monaco, nach Liechtenstein, auf die Kanalinseln, nach Luxemburg, nach Andorra oder auf die britischen Caymaninseln bringen, das waren schon in meiner Kindheit geflügelte Worte und magische Orte, an denen das örtliche Finanzamt nichts verloren hatte. Die Existenz eines oder mehrerer Refugien für Reiche auf dem Kontinent oder auf kleinen Inseln war für die europäische Idee ebenso konstitutiv wie die Montanunion. Es war gewissermaßen der steuerpolitische Rotlichtbezirk der europäischen Stadt, man hatte von Anfang an daran gedacht. Heute haben sich die Einstellungen aber verändert.
    Wer als vermögender Mensch europäische Standards genießen möchte – den Rechtsfrieden, die gut ausgebildeten Arbeitnehmer, die sicheren Straßen, die guten Krankenhäuser, die kulturellen Einrichtungen –, der

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