Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
soll nicht so geringe Steuern zahlen wie die Oberschicht einer Oligarchie. Die müssen sich oft genug von ihrem Geld eine Privatarmee leisten, für ein entsprechend modernes Krankenhaus spenden und vieles mehr, was in Europa nicht anfällt.
Die europäischen Spielregeln sind zu Ungunsten der Lohn- und Gehaltsempfänger manipuliert worden. Unterdessen ist die europäische Staatsschuldenkrise für viele ein einträgliches Geschäft. Wie viel wir genau für die Bewältigung der europäischen Staatsschuldenkrise zahlen müssen, kann niemand wissen. Irgendwie ahnt man aber schon, wer nicht zahlen wird. Selbst kommunistischer Umtriebe unverdächtige Organe wie die Boston Consulting Group empfehlen eine maßvolle Abgabe vom Besitz der reichsten Europäer zur Bewältigung der Schuldenkrise. Eigentlich ist es weniger eine Empfehlung als eine Prophezeiung der Berater: Es werde so kommen, Wachstum und Produktivität Europas, auch die Altersstruktur lassen gar keine andere Lösung zu als die Erhöhung der Belastung der Privatvermögen. Die Frage sei lediglich, wann dies geschehe. Vorher jedoch wird noch alles versucht, um jene weiter zu belasten, die schon belastet wurden. Das Geld der Reichen wird die allerletzte Ressource sein, die angerührt wird.
Wenn man gegenwärtig als Arbeitnehmer mit Familie das komische Gefühl hat, Wasser aus einem Boot schöpfen zu müssen, in das andere immer wieder Lecks hauen wie ein delirierender Kapitän Haddock, dann trifft das ziemlich genau die Lage. Und so etwas macht wahnsinnig müde. Doch in einem Punkt trügt der epochale Begriff: Menschen brennen nicht aus, sie sind ja keine Teelichter. Das Eingeständnis der Müdigkeit ist der Beginn rascher Erholung. So inspiriert uns der Name einer legendären Bremer Kneipe: Alles könnte anders sein.
Und das begreifen, wenn man sich mit wachen Sinnen umsieht und -hört, auch immer mehr Zeitgenossen. Unzählbar sind die Stiftungen, Vereine, Bürgerinitiativen, die sich mit anderen Wegen des Lebens und Wirtschaftens, mit dem Genuss in einer Postwachstumsgesellschaft, mit Ideen für eine größere Autonomie und Widerständigkeit befassen. Die Leute ändern ihre Essensgewohnheiten, sind gierig nach Berichten über wissenschaftliche Neuerungen in den Bereichen Gesundheit, Ernährung, Kindererziehung und Psychologie. Zwar ist es eine Minderheit, die in den großen Städten ganz andere Lebenswege testet und die diversen Subkulturen bevölkert, deren Welt diese oder jene Szene ist, aber die Bereitschaft, über Ausstieg und Andersmachen nachzudenken, ist sehr groß. Manchmal hat man den Eindruck, im sogenannten Mainstream der Gesellschaft, der die Nachrichten verfolgt und an Politik ein gewisses Interesse pflegt, halte sich nur eine Minderheit auf. Es gibt hingegen Katzenbegeisterte, Science-Fiction-Jünger, digitale Eingeborene und Vereinsmeier jeder Observanz – und das sind noch die öffentlich Aktiven. Für die übrige Bevölkerung gilt immer noch der weise Satz von Helmut Kohl, der einmal, zur Beschwichtigung unserer Nachbarländer, sagte: »Die Deutschen sind heute ein Volk, das sein Glück im Privaten sucht.« Und das trifft nach wie vor zu: Wohnungswechsel, Gartengestaltung, die großen Beziehungsdiskussionen, Trennungen, Modelle der gemeinschaftlichen Kindererziehung bei getrennten Partnern, all das macht den Großteil der Kümmernisse aus, jedenfalls jenen Teil, der nicht von Schule oder Beruf und natürlich gesundheitlichen Sorgen oder gar Schicksalsschlägen beansprucht ist.
Das bedeutet nicht, die gegenwärtige Gesellschaft sei entpolitisiert oder gestalte nur noch ihre Nische, es ist andersherum: Gerade wer auf einem gewissen, noch so beschränkten Feld über eine gewisse Kompetenz verfügt, traut sich auch die in der Demokratie unerlässliche Urteilskraft zu. Viele Studien haben es festgestellt, auch gerade unter jüngeren Erwachsenen oder Erstwählern: Es gibt ein waches, feines Gespür für Ungerechtigkeiten, symbolisch relevante Konflikte und die Verletzung von Menschen- und Bürgerrechten. Die Wachheit, mit der auf die Not der anderen reagiert wird, der Einfallsreichtum, die zu lindern, hat zuvor nicht gekannte Ausmaße angenommen. Und auch im sozialen und lokalen Nahbereich ist die Bereitschaft zum Einspruch groß, jeder Kommunalpolitiker kann davon ein Lied singen. Doch all diese politischen Interessen und mehr oder weniger spontanen Initiativen finden keine Anbindung zum geschlossenen Club der großen Parteien. Die sind weitgehend
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