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Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Titel: Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nils Minkmar
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Aber selbst wenn man diesen Punkt außer Acht lässt: Solche globalen und alles umfassenden Ziele sprengen die Grenzen von Politik. Sie gehören dem Bereich der Religion oder der Philosophie an. Man merkt es daran, dass niemand, der bei klarem Verstand ist, widersprechen würde, es ist kaum eine Gegenposition denkbar. Darum aber geht es im politischen Widerstreit vor einer parlamentarischen Wahl: die eigene Position in Konkurrenz zu der der anderen kenntlich zu machen und die Wähler von ihr zu überzeugen. Wenn man fordert: Wir wollen für alle das Gute und für keinen das Schlechte, dann ist es, als würde man gar keine Aussage treffen, denn es ist keine vernünftige Gegenposition denkbar, es sei denn, man konkurrierte gegen eine Satanistenpartei.
    So ist diese universelle Ausstrahlung, dieses grenzenlose und undifferenzierte Sendungsbewusstsein in Wahrheit eine Regression: Können nicht alle lieb zueinander sein? Kann nicht Schluss sein mit Armut und Krieg? Das sind schöne, aber kindliche Wünsche, und ein weiteres Problem gibt es auch noch: Die SPD ist, selbst wenn sie alle Sitze des Bundestages erhielte, keineswegs in der Lage, sie zu erfüllen – und jeder Leser weiß das. Keine Partei wäre es, es liegt einfach jenseits der Kompetenzen der Exekutive selbst eines großen europäischen Nationalstaats, die Zukunft aller Menschen zu verbessern. So schwankt die Partei zwischen einer Ich-Schwäche – wohin geht es, wer sind wir? – und einer globalen Berufung, für alle und in alle Zeit. Wähler sind aber erwachsen, weder erwarten sie solch umfassende Erlösung noch lassen sie sich vom bloßen Wunsch danach überzeugen.
    Insofern passt der Satz auf Seite  10 des Wahlprogramms ganz gut: »Wir wollen mehr als vier Jahre regieren.« Bei dem Katalog, den man da in bester Absicht zusammengeschrieben hat, dürften auch zehn Legislaturperioden knapp werden. Nicht nur solche gedanklichen, auch sprachliche Schludrigkeiten kennzeichnen jeden zweiten Satz, so wie: »Statt sinkender Schulden explodieren die Staatsschulden Europas ebenso wie die Arbeitslosigkeit in fast allen Ländern Europas«. »Statt zu sinken, steigen die Staatsschulden« – das wäre korrekt und leider von jedem Lektor zu korrigieren gewesen. Außerdem wäre es doch ganz gut, wenn die Arbeitslosigkeit explodierte wie ein den Tunnel versperrender Felsen, denn dann wäre man dieses Übel los. Und schließlich stört im Satz das doppelte »Europa«. Ganz offenbar fehlte der eine Arbeitstag und die eine Nacht, die es einen professionellen Redakteur gekostet hätte, aus diesem Konvolut einen Text zu machen.
    Die Lektüre gleicht einer Fahrt auf einer Monster-Achterbahn in Las Vegas, es geht von den höchsten Höhen zu den engsten Details. Mir jedenfalls wird dann schwindlig, und das ist die eigentlich, die tiefere Botschaft des Wahlprogramms: Es ist Ausdruck eines weltanschaulichen und politischen Vertigo.
    Wenige Seiten nachdem das Ziel einer Verbesserung der Welt festgehalten wurde, ist man schon bei einer »Anti-Stress-Verordnung« und der »Umsetzung von Gefährdungsbeurteilungen im Betrieb« also bei Rauchmeldern, Arbeitshandschuhen und anderen segensreichen Dingen. Die Gliederung ist aber nur denen einsichtig, die sie vorgenommen haben, die Kapitel bilden eine bunte Reihe von allerlei Themen. Zwischendrin gibt es mal echte Schockersätze wie »Wir stehen vor stürmischen Zeiten«, im nächsten Absatz kommt dann etwas zur Novellierung des Kartellrechts. Das sind wichtige Politikfelder, aber die Bürger denken anders. Es bewährt sich, von einer allgemeinen Lagebeschreibung zu einer Zielformulierung zu kommen, und zwar bitte einer präzisen – und dann die einzelnen Schritte darzustellen, die dorthin führen.
    Diese Textsammlung aber trägt ganz und gar die Züge eines aus mehreren Gliederungen und Stabsabteilungen zuliefernden Apparats, sie ist eher ein Selbstgespräch zum Beweis dessen, an was man alles gedacht hat. Auf Seite  22 schon, also noch im ersten Viertel, geht es um das Problem der Rechte der Angestellten in kirchlich getragenen Einrichtungen wie Diakonie und Caritas, ob sie also Streikrecht genießen und so. Nun sind das große Einrichtungen mit vielen Beschäftigten, aber es handelt sich hier doch um einen Spezialpunkt. Es ist der Stoff eines kleinen Berichts irgendwo im hinteren Teil der Nachrichtenmagazine. Sinnvoller wäre es gewesen, das Verhältnis von Kirche und Staat einmal ganz grundsätzlich zu modernisieren, aber dieses

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