Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
autark, wer sich dort hineinbegibt, wird sich fühlen, als erscheine er zu einem Familienfest bei völlig fremden Menschen.
So wird die Lust am Aufbruch und an der Gestaltung des eigenen Lebens, der eigenen Zeit an anderer Stelle ausgelebt. Sehr treffend war die Passage in »Generation Golf 2 «, in der Florian Illies beschrieb, was die langsam erwachsen werdende Generation Golf charakterisierte, und die er mit dem Satz begann: »Ich möchte einmal etwas ganz anderes machen.« Es ist so etwas wie der geheime Leitspruch der Deutschen. Nicht umsonst war Hape Kerkelings Pilger- und Wanderbuch »Ich bin dann mal weg« ein solcher Verkaufserfolg. Es ist vielleicht so etwas wie die Überdefiniertheit der postmodernen Zeiten und Systeme, die ein Gefühl der Beklemmung und Erschöpfung vermittelt.
Die Reaktion darauf ist aber fragmentiert, individuell und nach Kleinmilieus verschieden. Es findet keine Politisierung im herkömmlichen Sinne statt, keine Partei vermochte, der gewaltigen Energie der Deutschen einen adäquaten Gegenstand vorzuschlagen, etwas anzubieten für diesen immensen Appetit nach Innovation und einer nicht unbedingt bequemeren, aber irgendwie sinnvollen und sinnlicheren Lebensführung. Das Interesse an den großen und kleinen Fragen der Welt und des Lebens war ungebrochen, aber niemand nutzte das. Die Kanzlerin nicht, weil ihr Programm sie selbst war und die allgemeine Ruhe, die sie ausstrahlte. Aber auch die Sozialdemokraten und die Grünen nicht, weil sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren und keine Vorstellung davon hatten, wie und wohin die Menschen zu führen seien. Stattdessen machen sich alle allein oder in kleinen Gruppen auf die Suche, kulturethnologisch ist das Land ein großes Labyrinth und auch ein Versuchsraum, und alle vertrauten Institutionen werden geprüft und unter Umständen verworfen.
Wir erleben Zeiten, in denen von den Kirchen und den Gewerkschaften bis zu den großen Marken des Konsums und des Geistes alles, was der jungen Bundesrepublik ihr modernes und überlegtes Gesicht gab, neu betrachtet und definiert wurde. Vertraute und wesentliche Institutionen suchen sich neue Formen und Inhalte, vom Suhrkamp Verlag bis zu Karstadt. Und manche behalten zwar den Namen, tauschen aber die Inhalte aus, denn viel hat etwa die CDU nicht mehr mit der Partei von Strauß und Kohl gemein. Es ist kaum vorherzusehen, was verschwindet und was sich neu erfindet. So ist der Inbegriff deutscher Biederkeit, der Schrebergartenverein, heute etwas Angesagtes, Schrebergärten gelten als kleine Oasen der Postwachstumsgesellschaft, der Selbstversorgung und der Erholung ohne Fernreise. Statt des Symbols für Spießigkeit mit Jägerzaun und Gartenzwerg gelten sie als Reviere der Subversion und der Autonomie, vom Fahnenmast weht nicht mehr die Deutschland-, sondern eine Privatflagge.
Ein ganz banales Phänomen illustriert den kompletten Wandel der kulturellen Referenzsysteme in Deutschland: das Tattoo.
Es ist erst wenige Jahre her, da waren die Hautzeichnungen selten und gewissen Milieus vorbehalten. Die Motive wiederum variierten kaum, Klassiker überwogen die Sonderwünsche. Heute dürfte es schwerfallen, noch nicht tätowierte Deutsche unter 30 zu finden. Der Tattooshop hat Hafenviertel und Rotlichtbezirke verlassen, es gibt ihn fast so häufig wie Yogastudios und Sushiläden. Interessant ist in kulturanthropologischer Sicht die Vielfalt und völlige Zusammenhangslosigkeit der gewählten Motive: Es ist ohne große Recherche, sondern spontan möglich, von Schulter bis Ferse eines sommerlich bekleideten deutschen Großstadtbewohners eine bunte Reihe von Motiven vom asiatischen Drachen über gotische Schriftzüge zu Comicfiguren und neuseeländischen Tribals anzutreffen. Der einzige Zusammenhang ist der Wunsch des Tätowierten.
Sicher gibt es zu jedem Motiv eine treffliche Geschichte, aber das Gesamtbild ist kein geschlossenes, sondern das einer Offenheit, einer Suche nach Hinweisen, die mitunter etwas Labyrinthisches hat. Es ist der Wunsch nach einer individuellen Überdefinition, als wäre die Haut nicht einzigartig genug, sie muss wie eine Leinwand oder ein Touchscreen künstlerisch aufgewertet werden. So fungiert das Tattoo als ewiges Speichermedium gegen das permanente Vergessen, den Wechsel der Moden und Stile, die stete Umwälzung. Es ist etwas Echtes, von dem es keine neue Version geben wird, etwas, das man nicht verlieren kann, egal, wo man ist und wie es einem geht. Es stimuliert die
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