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Der Zitronentisch

Der Zitronentisch

Titel: Der Zitronentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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schon früh den Abgang gemacht und im Marquis of Granby noch ein Bier getrunken. Nein, heute nur ein kleines. Bekommt mir nicht mehr so gut, um ehrlich zu sein. Noch ist nicht aller Tage Abend, hatte der Barmann geantwortet.
    Er verachtete sich dafür, wie er sich vor diesem Flittchen aufgeführt hatte. Wollen Sie immer noch, wofür Sie gekommen sind? O ja, er wollte immer noch, wofür er gekommen war, aber davon konnte sie nun wirklich nichts verstehen. Er und Babs hatten es schon lange nicht mehr gemacht – fünf Jahre, sechs Jahre? In den letzten ein, zwei Jahren hatten sie kaum noch an ihrem Champagner genippt. Er mochte es, wenn sie dieses muttchenhafte Nachthemd anzog, mit dem er sie immer neckte, sich zu ihm ins Bett legte, das Licht ausknipste und über die alten Zeiten redete. Wie früher alles so war. Einmal zur Begrüßung, einmal volles Rohr, dann noch einmal zum Abschied. Damals warst du ein wahrer Tiger, Jacko. Hast mich ziemlich geschafft. Am nächsten Tag musste ich mir immer freinehmen. Nein. Doch. Na, wer hätte das gedacht. Aber ja, Jacko, ein wahrer Tiger.
    Sie hatte den Preis nur ungern erhöht, aber die Miete war auch gestiegen, und im Grunde zahlte er für Raum und Zeit, egal, was er dann tun oder lassen wollte. Es brachte auch Vorteile, einen Seniorenpass von der Bahn zu haben, damit würde die Fahrt in Zukunft billiger werden. Nicht, dass es jetzt noch eine Zukunft gab. Er würde nie mehr nach London fahren. Stilton und Salatschleudern bekam man schließlich auch in Shrewsbury, Herrgott nochmal. Beim Regimentstreffen würde ihn allmählich nur noch interessieren, wer nicht da war, statt wer da war. Und seine Zähne konnte auch der Pferdedoktor vor Ort in Ordnung bringen.
    Seine Päckchen waren oben in der Gepäckablage. Auf seiner Auftragsliste war alles abgehakt. Pam war jetzt sicher schon auf dem Weg zum Bahnhof, vielleicht bog sie gerade in die Kurzparkzone ein. Parkte immer mit der Nase nach vorn ein, da war nichts zu machen. Fuhr nicht gern rückwärts, schob das lieber für später auf, oder, wahrscheinlicher noch, wollte es ihm überlassen. Er war da anders. Er fuhr lieber rückwärts in die Parklücke. So war man auf einen schnellen Abmarsch eingerichtet. Reine Erziehungssache, vermutlich; immer auf dem Quivive bleiben. Pamela sagte immer, wann mussten wir denn mal einen schnellen Abmarsch machen? Meistens ist bei der Ausfahrt sowieso eine Schlange. Er sagte dann immer, wenn wir als Erste rauskämen, dann wär da keine Schlange. Beweis mir das Gegenteil. Und so weiter.
    Er schwor sich, er würde nicht nachgucken, ob sie die Felgen noch mehr abgestoßen hatte. Er würde keinerlei Bemerkung machen, wenn er das Fenster runterkurbelte und die Hand nach dem Parkscheinapparat ausstreckte. Er würde nicht sagen, Schau mal, wie weit die Räder weg sind, und ich komm trotzdem dran. Er würde nur fragen: »Was machen die Hunde? Hast du was von den Kindern gehört? Ist der Dünger geliefert worden?«
    Und doch trauerte er um Babs, und er fragte sich, ob er so auch um Pamela trauern würde. Wenn es denn so käme, natürlich.
    Er hatte seine Aufträge erledigt. Als der Zug in den Bahnhof einfuhr, schaute er aus dem hermetisch verschlossenen Fenster und hoffte, seine Frau auf dem Bahnsteig zu sehen.

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Petersburg
    Es war ein altes Theaterstück von ihm, 1849 in Frankreich geschrieben; von der Zensur war es umgehend verboten und erst 1855 für den Druck freigegeben worden. Auf die Bühne kam es ganze siebzehn Jahre später und erlebte klägliche fünf Aufführungen in Moskau. Nun, dreißig Jahre nach der Entstehung des Stücks, bat sie ihn telegraphisch um Erlaubnis, für Petersburg eine Kurzfassung erstellen zu lassen. Er willigte ein, gab jedoch leise zu bedenken, diese Phantasie seiner Jugendjahre sei als Druckwerk, nicht aber für die Bühne gedacht gewesen. Auch sei das Stück ihrer großen Begabung nicht würdig. Dieser Zusatz war eine typische Höflichkeitsgeste; er hatte sie nie spielen sehen.
    Das Stück handelte, wie ein Großteil seines Lebens werks, von der Liebe. Und wie in seinem Leben war es auch in seinem Werk: Die Liebe funktionierte nicht. Die Liebe mochte die Menschen vielleicht gütig stimmen, ihre Eitelkeit befriedigen und ihnen zu einer reinen Haut verhelfen, doch glücklich machte sie nicht; Gefühle und Absichten waren immer ungleich verteilt. Das war das Wesen der Liebe. Natürlich »funktionierte« sie in dem Sinn, dass sie die tiefsten Gefühle des Lebens weckte,

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