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Der Zitronentisch

Der Zitronentisch

Titel: Der Zitronentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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spürte er manchmal, wie ihm die Tränen kamen, und er wusste, das lag nicht am Wind, und plötzlich konnte er weder vor noch zurück, eine Gummihand klammerte sich an die Regenrinne, die andere stocherte blindlings in dem gewölbten dicken Plastikmaterial herum, und er hatte eine Scheißangst. Vor allem.
    Er bildete sich gern ein, dass Babs sich nie veränderte, und das tat sie auch nicht, weder in seiner Vorstellung noch in seiner Erinnerung oder Vorfreude. Doch zugleich musste er zugeben, dass ihre Haare nicht mehr ganz so blond waren wie früher einmal. Und nachdem er sie überredet hatte, sich nicht zur Ruhe zu setzen, hatte sie sich auch verändert. Mochte sich nicht mehr vor ihm ausziehen. Behielt das Nachthemd an. Bekam Sodbrennen von seinem Champagner. Einmal hatte er ihr den teureren mitgebracht, aber es lief auf dasselbe hinaus. Sie knipste immer öfter das Licht aus. Gab sich nicht mehr so viel Mühe wie früher, ihn in Schwung zu bringen. Schlief mit ihm ein; manchmal schon vor ihm.
    Aber er freute sich immer noch auf sie, wenn er die Junghennen fütterte, Kohlen zusammenkratzte, in der Regenrinne stocherte, wobei ihm die Tränen übers Gesicht liefen, Tränen, die er sich mit einem Gummihandschuhrücken über die Wangen schmierte. Sie war seine Verbindung zur Vergangenheit, einer Vergangenheit, in der er sich wirklich die Nase begießen und trotzdem dreimal hintereinander den Gong schlagen konnte. Ab und zu bemutterte sie ihn ein bisschen, aber das brauchte doch jeder mal, oder nicht? Schokikeksi, Jacko? Ja, so was kam vor. Aber auch: Du bist ein echter Mann, weißt du das, Jacko? Es gibt nicht mehr viele echte Männer, das ist eine aussterbende Rasse, aber du bist einer.
    Gleich waren sie in Euston. Ein junger Spund gegenüber von Jacko holte sein dämliches Handy raus und wähl te piepend. »Hallo Liebling … ja, hör mal, der Scheißzug ist irgendwo in der Nähe von Birmingham stecken geblie ben. Die sagen einem doch nichts. Nein, mindestens eine Stunde, wenn nicht mehr, würd ich sagen, und dann muss ich noch quer durch London … Ja … Ja, mach das … Ich dich auch … Tschüss.« Der Lügner steckte sein Handy weg und guckte sich um, ob jemand sich erdreistet hatte, das mit anzuhören.
    Also: nochmal den Tagesbefehl durchgehen. Bahnhof, bei John Lewis anrufen wegen frühzeitiger Salatschleuder-Attacke. Abendessen in einem Lokal in der Nähe der Pension: indisch, türkisch, egal was. Ausgabenlimit £ 8. Dann der Marquis of Granby, nur zwei Halbe, will ja den Quartiermeister nicht durch ständiges nächtliches Toilettenspülen um den Schlaf bringen. Frühstück, wenn möglich Würstchen extra. Kleine Flasche Champagner aus dem Laden am Bahnhof. Besorgungen für die NAAFI: Stilton wie üblich, Weckglasringe wie üblich, losen Puder wie üblich. Zwei Uhr Babs. Von zwei bis sechs. Allein schon der Gedanke … Käptn, schläfst du noch da unten? Würden die ehrenwerten Kameraden sich bitte erheben … Das Prunkschwert in der Scheide. Von zwei bis sechs. Dazwischen irgendwann Tee. Tee und ein Keksi. Komisch, wie das inzwischen auch schon Tradition geworden war. Und Babs konnte so aufmunternd wirken, sodass er zumindest für einen Moment, selbst im Dunkeln, selbst mit geschlossenen Augen, für einen Moment dachte, er sei … das, was er sein wollte.
    »Okay , alle s kla r zu m Gefecht . Heimwärts , James , un d gi b de n Pferde n di e Peitsche. « Sei n Seesac k wa r zwische n de n Sitze n verstaut , sei n Regenmante l nebe n ih m zusammengefaltet . Fahrkarte , Brieftasche , Waschzeug , Auftragslist e mi t säuberliche n kleine n Häkche n hinte r de n einzelne n Posten . Kondome ! De r Scher z wa r diesma l gründlic h misslungen . Da s Ganz e wa r ei n gründlic h misslungene r Scher z gewesen . E r schaut e nac h recht s durc h da s hermetisc h verschlossen e Fenster : ein e grel l erleuchtet e Sandwich-Bar , ei n abgehängte r Packwagen , ei n Gepäckträge r i n eine r alberne n Uniform . Waru m habe n Lokführe r ni e Kinder ? Wei l si e vo r de r Einfahr t imme r di e Brems e ziehen . Ha-ha . Kondom e mi t au f di e List e z u setze n wa r sei n alljährliche r Scher z gewesen , wei l e r ga r kein e brauchte . Scho n sei t Jahre n nich t mehr . Al s Bab s ih n kannt e un d ih m vertraute , hatt e si e gesagt , da s wär e nich t nötig . E r hatt e gefragt , un d da s andere , wil l heiße n Sprösslingsproduktion . Si e hatt e geantwortet : »Jacko , ic h glaube , dies e Gefah r is t scho n

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