Der Zorn der Götter
fünf Jahren ebenfalls die Nummer eins. Das muss in der Familie liegen.«
Als Tanner einen Rhetorikwettbewerb gewann, sagte der Professor. »Herzlichen Glückwunsch, Tanner. Sie sind schon der zweite Kingsley, der diesen Preis erhält.«
Nicht anders erging es ihm, als er der Tennismannschaft beitrat. »Hoffentlich bist du genauso gut wie dein Bruder Andrew«, meinte der Trainer.
Als Tanner sein Diplom erhielt, hieß es: »Ihre Rede auf der Abschlussfeier war mitreißend. Sie hat mich sehr an die Andrews erinnert.«
Er war im Schatten seines Bruders aufgewachsen, und es wurmte ihn, dass er immer nur als der Zweitbeste galt, weil Andrew ihm stets zuvorgekommen war.
Die beiden Brüder hatten manche Gemeinsamkeit – beide sahen gut aus, waren intelligent und hoch begabt, aber als sie älter wurden, traten auch deutliche Unterschiede zutage. Während Andrew selbstlos und zurückhaltend war, war Tanner extrovertiert, gesellig und ehrgeizig. Andrew zeigte sich im Beisein von Frauen eher schüchtern, Tanner hingegen zog sie aufgrund seines Aussehens und seines Charmes geradezu magnetisch an.
Doch der größte Unterschied zwischen den beiden Brüdern war ihr Lebensziel. Andrew legte großen Wert darauf, zum Wohle der Menschheit zu wirken und anderen beizustehen, während Tanner reich und mächtig werden wollte.
Andrew schloss sein Studium mit summa cum laude ab und griff sofort zu, als man ihm die Mitarbeit in einer großen Denkfabrik anbot. Dort lernte er, welch wichtigen Beitrag ein derartiges Unternehmen zum Wohle der Menschheit leisten konnte, und fünf Jahre später beschloss er, eine eigene Denkfabrik zu gründen, wenn auch in einer weitaus bescheideneren Größenordnung.
Als Andrew Tanner von seiner Idee berichtete, war dieser sofort Feuer und Flamme. »Das ist ja großartig! Denkfabriken werden von der Regierung mit Aufträgen in Millionenhöhe bedacht, ganz zu schweigen von den Unternehmen, die …«
»Das entspricht nicht ganz meinen Vorstellungen«, unterbrach ihn Andrew. »Ich will den Menschen damit helfen.«
Tanner starrte ihn an. »Den Menschen helfen?«
»Ja. Dutzende von Ländern in der Dritten Welt haben keinerlei Zugang zu modernen landwirtschaftlichen und industriellen Produktionsmethoden. Wenn man einem Mann einen Fisch gibt, so heißt es, kann er sich eine Mahlzeit zubereiten. Bringt man ihm aber bei, wie man Fische fängt, kann er sich sein Leben lang ernähren.«
Mit diesem Kleinkram kommt man doch zu nichts, dachte Tanner. »Andrew, diese Länder können es sich gar nicht leisten, uns …«
»Das spielt doch keine Rolle. Wir schicken Fachleute in die Dritte Welt, die den Menschen dort moderne Technologien bringen, die ihr Leben verändern werden. Ich mache dich zu meinem Kompagnon. Wir nennen unsere Denkfabrik die Kingsley Group. Was hältst du davon?«
Tanner dachte einen Moment lang nach. Dann nickte er.
»Genau genommen ist das gar keine schlechte Idee. Wir fangen mit den Ländern an, die du angesprochen hast, und danach sehen wir zu, dass wir ans große Geld kommen – an die Regierungsaufträge und …«
»Wir sollten zunächst dafür sorgen, dass die Welt lebenswerter wird, Tanner.«
Tanner lächelte. Die Sache lief auf einen Kompromiss hinaus. Sie würden so anfangen, wie Andrew es vorgeschlagen hatte, und die Firma dann allmählich ausbauen, bis sie ihre wahren Möglichkeiten ausschöpfen konnten.
»Nun?«
Tanner streckte ihm die Hand entgegen. »Auf unsere Zukunft.«
Sechs Monate später standen die Brüder im strömenden Regen vor einem kleinen Ziegelgebäude, an dem ein unscheinbares Schild mit der Aufschrift KINGSLEY GROUP prangte.
»Na? Wie sieht das aus?«, fragte Andrew sichtlich stolz.
»Herrlich«, erwiderte Tanner, der sich nur mühsam einen spöttischen Unterton verkneifen konnte.
»Dieses Schild wird vielen Menschen auf der Welt Glück und Segen bringen, Tanner. Ich habe bereits damit angefangen, ein paar Fachleute anzuwerben, die wir in die Dritte Welt schicken können.«
Tanner setzte bereits zu einem Einspruch an, hielt sich dann aber zurück. Er durfte seinen Bruder nicht zu sehr bedrängen. Der hätte sich sonst stur stellen können. Irgendwann würde der richtige Zeitpunkt kommen. Ganz bestimmt. Tanner blickte zu dem kleinen Schild auf und dachte: Eines Tages wird dort KIG stehen, Kingsley International Group.
John Higholt, ein Kommilitone von Andrew, hatte hunderttausend Dollar für die Gründung der Denkfabrik zur Verfügung gestellt.
Weitere Kostenlose Bücher