Der Zorn der Götter
Vergangenheit der unlängst entlassenen Häftlinge, und wenn sie über Fähigkeiten verfügten, die er gebrauchen konnte, kamen sie aus dem betreuten Heim sofort zu Tanner und erledigten für ihn so genannte »heikle persönliche Aufträge«.
So hatte er beispielsweise auch einen ehemaligen Sträfling namens Vince Carballo zur KIG geholt. Carballo war ein schwergewichtiger Mann mit einem zotteligen Bart und stechenden blauen Augen. Er hatte ein langes Vorstrafenregister und war einst wegen Mordes angeklagt worden. Die Beweise gegen ihn waren erdrückend, doch ein Geschworener beharrte darauf, dass der Mann freigesprochen werden sollte, sodass die Jury zu keinem einstimmigen Beschluss gelangte. Nur wenige Menschen wussten, dass die Tochter des Geschworenen verschwunden war und der Täter eine Nachricht mit folgendem Wortlaut hinterlassen hatte: Das Schicksal Ihrer Tochter hängt vom Urteil der Geschworenen ab. Solche Männer bewunderte Tanner Kingsley.
Auf ähnliche Weise hatte Tanner auch von einem ehemaligen Sträfling namens Harry Flint gehört. Er ließ Flints Leben gründlich durchleuchten und kam zu dem Entschluss, dass er der ideale Mann für seine Zwecke war.
Harry Flint war in Detroit geboren. Sein Vater war ein verkrachter und dementsprechend verbitterter Handelsvertreter, der die meiste Zeit zu Hause herumsaß und sich über Gott und die Welt beklagte. Gleichzeitig führte er ein strenges, ja geradezu sadistisches Regiment und genoss es regelrecht, seinen Sohn beim geringsten Verstoß mit einem Lineal, einem Hosengürtel oder irgendetwas anderem, das gerade zur Hand war, zu verdreschen. Es war, als wollte er ihn zu Leistung und Erfolg prügeln, um sein eigenes Versagen wettzumachen.
Harrys Mutter arbeitete als Maniküre in einem Friseursalon. Während der Vater ein Tyrann schlimmster Sorte war, liebte die Mutter ihren Sohn geradezu abgöttisch, sodass Harry in jungen Jahren ständig zwischen beiden Extremen hin- und hergerissen wurde.
Die Ärzte hatten Harrys Mutter erklärt, sie wäre zu alt, um Kinder zu bekommen; daher betrachtete sie ihre Schwangerschaft als ein Wunder. Nach Harrys Geburt verhätschelte sie ihn nach Strich und Faden, knuddelte, tätschelte und küsste ihn ständig, bis der Junge das Gefühl hatte, er werde von ihrer Liebe regelrecht erdrückt. Als er älter wurde, verabscheute er jegliche körperliche Berührung.
Als Harry Flint vierzehn Jahre alt war, fing er im Keller eine Ratte und zertrampelte sie. Er sah zu, wie die Ratte langsam und qualvoll starb. Für Harry Flint war das wie eine Offenbarung. Mit einem Mal wurde ihm klar, dass er Herr über Leben und Tod war. Er kam sich vor wie Gott. Er war omnipotent, allmächtig. Er wollte dieses Gefühl unbedingt wieder erleben, und deshalb stellte er kleinen Tieren in der Nachbarschaft nach und machte mit ihnen, wozu immer er Lust hatte. Flint tat das nicht etwa aus purer Boshaftigkeit oder aus Wut. Er nutzte einfach die Gabe, die ihm Gott gegeben hatte.
Aufgebrachte Nachbarn, deren Haustiere gequält und getötet worden waren, beschwerten sich bei den Behörden, worauf man dem Täter eine Falle stellte. Die Polizei leinte einen Scottish Terrier im Vorgarten eines Hauses an, damit er nicht davonlaufen konnte, und legte sich auf die Lauer. In der Nacht näherte sich Harry Flint dem Tier, zwängte ihm das Maul auf und steckte einen Feuerwerkskörper hinein. Die Polizisten, die das Ganze beobachtet hatten, schlugen sofort zu. Als Harry Flint durchsucht wurde, fand man in seiner Hosentasche einen blutigen Stein und ein Filetiermesser mit dreizehn Zentimeter langer Klinge.
Er wurde für zwölf Monate ins Challenger Memorial Youth Center geschickt, eine geschlossene Erziehungsanstalt für verhaltensauffällige Jugendliche.
Eine Woche nach seiner Einlieferung griff er einen der anderen Jungs an und richtete ihn übel zu. Der Psychiater, der Flint untersuchte, befand, dass er an schizophrener Paranoia litt.
»Er ist hochgradig psychotisch«, warnte der Arzt die Aufseher. »Seien Sie vorsichtig. Halten Sie ihn von den anderen fern.«
Harry war fünfzehn Jahre alt, als er seine Strafe verbüßt hatte und auf Bewährung entlassen wurde. Er kehrte auf die Schule zurück, wo er von einigen Klassenkameraden wie ein Held verehrt wurde. Die Jungs waren in allerlei kleine Gaunereien verwickelt, klauten zum Beispiel Handtaschen, entwendeten anderen Leuten die Geldbeutel und begingen Ladendiebstähle, und Flint wurde bald ihr
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